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solche Rechtsmittel, denen die Natur von „Zwangs-
mitteln ohne Krieg“ innewohnen soll, kein Raum.
Erst in der spätrömischen Zeit erscheint die Macht
des absoluten Staats beschränkt durch die unter
dem Einfluß der christlichen Weltanschauung zu
immer größerer Gelltung gelangte Selbständigkeit
der Einzelperson, der Familie, der Korporation
und Stammesverbindung. Eine Folge hiervon
war auch die Anerkennung von Eigenrechten dieser
sozialen Gebilde und ihrer selbständigen Wehr-
haftigkeit. So entstand das Repressalienrecht, von
der Kirche nicht unbedingt, sondern nur in seinen
Ausschreitungen bekämpft, vom Staat an seine
Genehmigung und Überwachung gebunden. So-
nach begegnet man schon im 12. Jahrh. der Rechts-
übung, daß vor Ergreifung von Repressalien (im
kanonischen Recht auch pignorationes ge-
nannt) eine Verhandlung vor den Friedenerichtern
(conservatores pacis) stattzufinden habe. Nur
dann und dort, wo das Mittleramt derselben
fruchtlos geblieben war, konnte der Kläger er-
mächtigt werden, sich für das ihm von den Unter-
tanen eines fremden Landesherrn zugefügte Un-
recht an Leib, Leben, Freiheit, Vermögen auf
eigne Faust Genugtuung und Schadloshaltung
zu verschaffen, und zwar auf Grund eines Frei-
briefs, der marcha. Diese Art Markebriefe
(ettres de marque ou de représailles) gaben
das Recht zur Wegnahme der Güter des Gegners
innerhalb des Gebiets der den Markebrief ver-
leihenden landesherrlichen Gerichtsgewalt wie auch
von Fahrzeugen und ihrer Fracht auf offener See.
In diesen Kampf ums Recht Maß und Regel zu
bringen, bezweckten die Statuarrechte, namentlich
jene der lombardischen Städte. Sie enthalten
genaue Bestimmungen über die Ausübung des
Repressalienrechts, die aktive Legitimation hierzu,
die zulässigen Fälle der Repressalienübung, die
Nachsuchung derselben bei der Obrigkeit, die
Prüfung der Ansprüche des Klägers und das
rechtliche Gehör des Beklagten. Die litterae
repraesaliarum ermächtigten den Beschädigten
zur Wegnahme von Geiseln, zur Pfändung von
Gegenständen, zur Besitzergreifung von unbeweg-
lichem Gut bis zur vollen Befriedigung seines
Rechtsanspruchs (Patent Eduards III. von Eng-
land 1344 und Parlamentsakte von 1353; Edikt
Karls VIII. von Frankreich 1485; die nieder-
ländischen Edikte aus dem 15. Jahrh.).
Da Akte der Selbsthilfe auch wegen ge-
ringfügiger Rechtskränkungen immer zahlreicher
wurden und den allgemeinen Landfrieden fort-
während störten, traf man in den Waffen-
stillstands= und Friedensverträgen des 15. und
16. Jahrh. Vorsorge, private Repressalienakte
möglichst zu erschweren und nur im Fall einer
nachgewiesenen Verweigerung des rechtlichen Ge-
hörs zu gestatten. Da insbesondere im See-
verkehr unter dem Vorwand von Repressalien
Seeräuberei betrieben wurde, sollten alle Schiffe,
welche aus Häfen ausliefen, Kaution stellen, daß
Repressalien.
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sie keine Repressalien ausüben werden, weder im
eignen Namen noch für Rechnung und Gefahr
eines andern. Die Ordonnance de la marine
vom Aug. 1681 handelt in Buch 3, Tit. 10 von
den Marke= und Repressalienbriefen, insbesondere
von der kurzen mündlichen Vorverhandlung (pro-
ès verbal) beim Admiralitätsgericht über den
Wert der weggenommenen Sachen, von der Form
und dem Inhalt der Repressalienbriefe, der Ver-
pflichtung, den Markebrief in das Register des
Marineamts eintragen zu lassen und Kaution bis
zur Hälfte des Werts der weggenommenen Gegen-
stände zu leisten usw. Die zur See auf Grund
von Repressalienbriefen weggenommenen Handels-
schiffe und Handelsgüter sollten nach den Grund-
sätzen über die Ausübung des Prisenrechts im
Seekrieg behandelt werden. War die Prise für
gerechtfertigt erklärt worden, so wurde die öffent-
liche Versteigerung derselben bewerkstelligt, dem
Repressaliennehmer die ihm im Markebrief zuer-
kannte Entschädigung ausgefolgt und der etwaige
Überschuß für den Eigentümer des aufgegriffenen
Guts nach Abzug der Kosten des Verfahrens
hinterlegt. Es kam nicht selten vor, daß Repres-
salienbriefe an Order gestellt wurden und in sol-
cher Weise übertragbar waren, daß ferner der-
jenige, gegen welchen ein Repressalienbrief erlassen
worden, mit einem Gegenbrief sich zu schützen
suchte. Diese lettres de contremarque wurden
gegen diejenigen gerichtet, welche die bezüglichen
lettres de marque ausgestellt hatten. Der in
solcher Art gestattete kleine Krieg war unter den
zahlreichen Republiken und Souveränitäten, na-
mentlich auf der italienischen Halbinsel, ein fort-
währender, und es ist erklärlich, daß, als im Zeit-
alter des Humanismus die Idee der Geschlossen-
heit und Einheitlichkeit des antiken Staats neuen
Boden gewann, die Erteilung von Repressalien-
briefen ausschließlich Sache der landesherrlichen
Gewalt wurde, ebenso die Ausstellung von Schutz-
briefen an gewisse Personenklassen: Geistliche, Ge-
sandte, Pilger, Gerichtspersonen und Gerichts-
zeugen, Heil- und Wundärzte, Magister und fah-
rende Schüler, Geldwechsler und Kaufleute usw.
Stufenweise vollzog sich die Umwandlung der
alten Repressalienpraxis in ein Verfahren des
öffentlichen Rechts. Repressalien wurden nunmehr
vom Staat angeordnet und in Vollzug gesetzt,
sei es daß eine Verletzung des Gewohnheits= oder
des Vertragsrechts erwiesen war. Das privat-
rechtliche Interesse tritt zurück vor dem öffent-
lichen. Nicht bloß um Schadenersatz und Genug-
tuung allein handelt es sich, sondern um die
zwangsweise Anerkennung der Hoheitsrechte des
verletzten Staats, um die vollständige Wiederher-
stellung des gestörten Rechtszustands. Bezüglich
der Art und Anwendung der Repressalienmittel
wird allerdings viel auf die Kulturstufe ankommen,
auf welcher der Gegner steht, auf den sie wirken
sollen. Aus dem Grundsatz, daß Repressalien
Maßregeln der souveränen Staatsgewalt sind,