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da er zwar mit 76 gegen 72 Stimmen eine Mehr-
heit, aber nicht die erforderliche Zweidrittelmehr-
heit erlangte. Landesgesetze, welche die Einholung
der Einwilligung des Landtags zum Verzicht auf
Reservatrechte ausdrücklich vorschreiben, bestehen
zurzeit nirgends, wären übrigens für zulässig zu
errachten (so selbst Laband 1 114). Die Praxis
des Bundesrats hält daran fest, daß es zur Auf-
hebung eines Sonderrechts nur auf die Abstim-
mung des berechtigten Bundesstaats im Bundes-
rat, nicht auf eine Zustimmung des Landtags an-
komme (vgl. Laband I 112 A. 4; 113 A. 2).
Was dagegen die Stellungnahme der Einzel-
regierungen zu ihren Landtagen betrifft, so hat
Staatsminister v. Lutz in der bayrischen Ab-
geordnetenkammer am 9. Febr. 1872 erklärt: „Es
wird keinen vernünftigen Menschen geben, der es
unternimmt, auf Reservatrechte in Berlin zu ver-
zichten, ohne sich der Zustimmung der Kammern
vorher versichert zu haben.“ Ahnlich äußerte sich
Staatsminister v. Mittnacht am 8. Febr. 1872
in der württembergischen Abgeordnetenkammer: ein
Ministerium handle nicht konstitutionell, wenn es
in Fragen dieser Art allein vorgehe, ohne die
Landesvertretung hinter sich zu wissen. Tatsächlich
hatte aber die württembergische Regierung dem in
das Reservatrecht Württembergs eingreifenden
Reichspostgesetz vom 28. Okt. 1871 zugestimmt,
ohne die Stände hierüber zu befragen. Dagegen
hat der Senat von Hamburg, als es sich um den
Zollanschluß an das Reich handelte, zu der dies-
bezüglichen Vereinbarung mit der Reichsregierung
am Z. Juni 1881 die Mitgenehmigung der Bürger-
schaft nachgesucht und am 15. Juni 1881 erhalten.
Dasselbe geschah auch beim Zollanschluß Bremens
im Jahr 1884. Ebenso hat die württembergische
Regierung am 1. Dez. 1884, als es sich um ihre
Zustimmung zu dem Entwurf eines in das Post-
reservatrecht Württembergs eingreifenden Reichs-
postsparkassengesetzes handelte, die Ansicht ihrer
Stände erfragt, worauf diese erklärten, daß sie
gegen die Zustimmung der württembergischen Re-
gierung zu jenem Gesetzentwurf eine Einwendung
nicht zu machen haben. Noch weiter gingen die
Regierungen von Bayern, Württemberg und
Baden, als sie unter Verzicht auf das Reservat-
recht der Branntweinbesteuerung den Beitritt zur
Branntweinsteuergemeinschaft bewirken wollten; in
diesem Fall sicherten sich die Regierungen die Zu-
stimmung ihrer Landtage durch förmliche Landes-
gesetze: das badische Gesetz vom 8. Juli 1887 „er-
mächtigte die Regierung“, den Eintritt Badens in
die Branntweinsteuergemeinschaft zu „vollziehen“;
das württembergische Gesetz vom 17. Sept. 1887
bestimmte, daß Württemberg in die Branntwein-
steuergemeinschaft „nach Maßgabe der Bestim-
mungen des § 47 des Reichsgesetzes vom 24. Juni
1887 eintrete“; das bayrische Gesetz vom 27. Sept.
1887 endlich „ermächtigte die Regierung, die in
§ 47 des Reichsgesetzes vorbehaltene Zustimmung
7 erklären“. Anderseits ist wieder das württem-
Reservatrechte.
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bergische Fußartilleriebataillon Nr 13 auf den
preußischen Etat durch Reichsgesetz vom 3. Aug.
1893, Art. 5 überführt und dadurch die Militär-
konvention abgeändert worden, ohne daß die
württembergischen Stände hierüber gehört worden
wären.
3. Entstehen Zweifel über Vorhanden-
sein, Inhalt und Umfang eines Re-
servatrechts, so fehlt es an einer besondern,
unabhängigen Behörde, welche zur Entscheidung
des Streites berufen wäre; die gesetzgebenden
Faktoren des Reichs entscheiden solche Fragen
selbständig, ohne hierbei an die Zustimmung des
ein Reservatrecht in Anspruch nehmenden Bundes-
staats gebunden zu sein. Als beim Erlaß der
Reichs-Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dez.
1898 Bayern ein Reservatrecht bezüglich seines
obersten Militärgerichts geltend machte, welches
von den übrigen Bundesstaaten bestritten wurde,
half man sich mit einer Vereinbarung zwischen
dem Kaiser und dem Prinzregenten von Bayern,
wonach bei dem Reichsmilitärgericht ein besonderer
Senat für das bayrische Heer eingerichtet und dem
König von Bayern das Recht der Ernennung der
Mitglieder dieses Senats und des Militäranwalts
für denselben eingeräumt werden sollte; dieser Ver-
einbarung entsprach das Reichsgesetz vom 9. März
1899, durch welches das beanspruchte Reservat-
recht verneint wurde.
III. Die politische und wirtschaftliche Entwick-
lung des Deutschen Reichs mit ihrer zentrali-
sierenden Tendenz ist den Reservatrechten nicht
günstig. Ein Teil der den Einzelstaaten bei Grün-
dung des Reichs gewährten Reservatrechte auf dem
Gebiet des Steuer= und Zollwesens ist, wie schon
oben bemerkt, bereits beseitigt oder wesentlich ab-
geschwächt; die Fortdauer anderer Reservatrechte,
namentlich auf dem Gebiet des Militär-- und Ver-
kehrswesens, ist ernstlich in Frage gestellt. Plan-
mäßige Einheitsbestrebungen beschleunigen noch
den natürlichen Gang der Dinge, und die poli-
tischen Mittel, welche in den Dienst dieser Be-
strebungen gestellt werden können und tatsächlich
auch gestellt werden, sind gar vielgestaltig. So
hat der Reichskanzler Fürst v. Bismarck am
28. Nov. 1881 im Reichstag zugegeben, daß der
Antrag Hamburgs auf Anschluß an das deutsche
Zollgebiet nicht ohne eine „Pression“ von seiten
des Reichs gestellt worden sei; er behauptete freilich,
diese Pression mit „berechtigten“ Mitteln geübt zu
haben und dafür Lob zu verdienen, weil der Druck
erfolgt sei, um „im nationalen Sinn die natio-
nalen Zwecke des Reichs zu Ende zu führen“. Die
Beseitigung des Reservatrechts der Branntwein-
besteuerung wurde dadurch erreicht, daß den be-
rechtigten Staaten an Stelle des Reservatrechts
Vorrechte auf dem Boden der reichsgesetzlichen
Reglung der Branntweinsteuer, nämlich bei der
Festsetzung der zum niedrigeren Steuersatz herzu-
stellenden Jahresmenge des Branntweins und bei
der Verteilung des Reinertrags der Verbrauchs-