657
Als Erwiderung oder Aufrechnung einer er-
littenen Unbill fand die Retorsion bzw. Kompen-
sation auch in manche Strafgesetze Eingang
bei wechselseitigen Beleidigungen und körperlichen
Mißhandlungen, wenn sie auf der Stelle erwidert
werden. In derartigen Fällen soll dem Richter
die Möglichkeit geboten sein, für beide Teile oder
für den minder Schuldigen eine mildere Strafe
zu bestimmen oder von dieser selbst ganz absehen
zu können: in Ansehung des Retorquenten des-
halb, weil er zur Erwiderung des Angriffs gereizt
wurde, also im Affekt gehandelt hat, hinsichtlich
beider Teile aus dem weiteren Grund, daß durch
die strafbare Handlung (sei es Angriff oder Ver-
teidigung) der Anspruch auf Bestrafung gewisser-
maßen verwirkt wird. Der Ausdruck Retorsion ist
aber auch hier nicht zutreffend.
3. Inhalt. Praxis. Die Zurücksetzung,
welche als Unbilligkeit empfunden wird, kann alle
im Völkerrecht begründeten allgemeinen und be-
sondern Staatenrechte betreffen, wie auch die Be-
ziehungen eines Staats zu seinen Angehörigen.
Die Unbilligkeit kann bestehen in der Versagung
der Billigkeit, aber auch in der Nichtzubilligung
des gegen andere Staaten und ihre Untertanen
beobachteten Gewohnheits= und Gesetzesrechts.
Sohin kann man gegenständlich zwei Hauptfälle
der Anwendung von Retorsionen unterscheiden:
die Zurückweisung von Unbilligkeiten in der Rechts-
pflege und von Beeinträchtigungen im kommer-
ziellen Verkehr. Im ersten Fall können wieder
Billigkeitsgrundsätze des materiellen Rechts (Pri-
vatrecht, Strafrecht, Verwaltungsrecht) oder des
Prozeßrechts (Verfahren in und außer Streit-
sachen, Kriminal- und Polizeistrafverfahren) in
Frage stehen. Beeinträchtigt durch die Unbillig-
keit können entweder der Staat selbst oder Teile
desselben oder einzelne Staatsbürger erscheinen.
Vergeltung eines Rechtsbruchs durch einen Rechts-
bruch ist nicht Retorsion. Eine übeltat verliert
ihren Charakter darum nicht, weil sie durch eine
strafbare Handlung veranlaßt wurde. Wieder-
vergeltung (ius talionis) liegt überhaupt außerhalb
des Völkerrechts der Friedensordnung. Die Zu-
rückweisung der Gewaltübung durch Mittel der
Gewalt ist Repressalie, d. i. Selbstsicherung durch
Lähmung des gegnerischen Willens und Kraft-
vermögens.
In der Praxis handelt es sich sehr oft um die
Vorfrage, wie eine Unbilligkeit beschaffen sein
müsse, um die Retorsion zu rechtfertigen, ob der
Umstand, daß der sich beschwerende Staat minder
günstig behandelt wird als alle übrigen Staaten,
undob insbesondere auch eine Zurücksetzung frem-
der Staatsangehörigen hinter die eignen oder nur
hinter andere Fremde dazu berechtige. Im ersten
Punkt wird man sagen müssen: die Staaten
können als Glieder einer völkerrechtlichen Ge-
meinschaft ihre vitalen Interessen wechselseitig
nicht unberücksichtigt lassen. Sie werden sich zur
Aufrechterhaltung eines guten Einvernehmens nicht
Retorsion.
658
bloß in Bezug auf die Rechtspflege, sondern auf
alle Zweige der staatlichen Verwaltung die tun-
lichsten Zugeständnisse machen. Im Fall der Ver-
weigerung eines billigermaßen zu verlangenden
Entgegenkommens wird der dadurch beeinträchtigte
Staat zur Anwendung von Retorsionsmaßregeln
berechtigt sein, um den andern Staat zu ent-
sprechenden Zugeständnissen zu bewegen, seien es
gleichartige oder doch ähnliche. In solcher Weise
ist das Rechtsinstitut der Retorsion allerdings für
die Fortbildung der internationalen Billigkeits-
praxis von Nutzen und erscheint nicht bloß als
Korrektiv gegen allzu fühlbare Geltendmachung
des Sonderinteresses, sondern auch als Mittel,
empfindliche Lücken im Völkerrecht auszufüllen.
Im zweiten Punkt steht folgendes zur Er-
wägung: Darf auch die gleiche Zulassung der
Fremden wie der Einheimischen zum Erwerb und
zur Ausübung von Privatrechten gegenwärtig als
eine ziemlich allgemein anerkannte Regel angesehen
werden, so sind Vorbehalte in dieser Beziehung
noch keineswegs eine Verletzung der Billigkeit.
Die Billigkeit (equity) wird erst dann und dort
verletzt, wo die Angehörigen eines Staats grund-
sätzlich schlechter behandelt werden als jene der
übrigen Staaten, und dagegen wird Retorsion
als eine der Unbilligkeit entgegenwirkende Maß-
regel berechtigt sein, wofern es sich nicht etwa um
Übergriffe einzelner Organe, sondern um Ver-
fügungen der Regierung selbst handelt.
Da die Retorsion nicht Vergeltung bezweckt,
sondern nur die Beseitigung der Unbilligkeit, wird
sie gegenstandslos, sobald ihr Zweck erreicht ist.
Die Retorsion darf auch keine unverhältnismäßige,
mit dem Anlaß, aus welchem sie ergriffen wurde,
außer sachlichem Zusammenhang stehende sein.
Ob retorquierende Maßregeln im Weg der Ge-
setzgebung beschlossen oder durch die Exekutive in
das Werk gesetzt werden, hängt von den Staats-
verfassungen und der Tragweite des einzelnen
Falles ab. Retorsion darf immer nur gegen den
dieselbe veranlassenden Staat, nicht aber gegen
einen andern geübt werden, mag er auch mit
ersterem in einem staats= oder völkerrechtlichen
Verband stehen.
Der Literatur des Völkerrechts gebricht es an
einer Sammlung von Retorsions fällen, die in
verschiedenen Formen als Kampfzölle, Sperr-
gesetze, Ausfuhrverbote, Versagung der Rechts-
hilfe, Einschränkung des diplomatischen Ver-
kehrs usw. vorkommen. Manche Beispiele gehören
der Lehre von der formellen Reziprozität oder
aber von der Repressalienübung an, so das oft
zitierte Dekret Napoleons I., Berlin, 21. Nov.
1806, durch welches die Blockierung der Küsten
Großbritanniens und die Beschlagnahme alles
englischen Eigentums zu Wasser und zu Land
verfügt wurde. Retorsionsmaßnahmen sind nicht
selten in Zolltarifgesetzen vorgesehen. So kann
unter anderem gegenüber Staaten, welche deutsche
Schiffe oder Waren deutscher Herkunft schlechter