Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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rannenmords zu. Tyrann war nach der älteren 
Anschauung erstens der Usurpator, der die 
Herrschaft eines Landes unrechtmäßig an sich reißt 
(tvrannus tituli s. usurpationis), zweitens der 
rechtmäßige Herrscher, der seine Gewalt zur Be- 
drückung seiner Untertanen mißbraucht (tyrannus 
regiminis s. potestatis abusu). Bezüglich des 
Usurpators lehrten die älteren Juristen und Theo- 
logen (Thomas von Aquin, In 2 dist. 44, q. 2, 
A. 2 ad 5; Suarez, Defens. fid. I. 6, c. 4, n. 7) 
fast allgemein, man dürfe demselben, solang er 
noch nicht im ruhigen Besitz der Regierung sei, 
mit Gewalt widerstehen, ja selbst ihn köten; dies 
rechtfertige sich durch die Verteidigung des recht- 
mäßigen Fürsten gegen einen öffentlichen Feind 
des Staats. Gerade durch todesmutigen Wider- 
stand gegen den Usurpator und unerschütterliche 
Treue gegen das angestammte Herrscherhaus haben 
sich ja manche Völker die unvergänglichsten Lor- 
beeren errungen. 
Hinsichtlich des Tyrannen im zweitgenannten 
Sinn, des im ruhigen Besitz seiner Macht befind- 
lichen Herrschers, der seine Gewalt zur ungerechten 
Bedrückung seiner Untertanen mißbraucht, lehrten 
manche, wie Johann von Salisbury, Jean Petit, 
der spanische Jesuit Joh. Mariana, aber auch eine 
große Anzahl protestantischer Theologen, und zwar 
inweitschärferer Weise als der vielberufene Mariana, 
ein Recht des Tyrannenmords und damit der Em- 
pörung. Melanchthon beispielsweise schrieb 1540 
über Heinrich VIII.: „Wie richtig heißt es doch 
in der Tragödie: kein angenehmeres Opfer könne 
Gott geschlachtet werden als das eines Tyrannen; 
möchte Gott einem starken Mann diesen Geist ein- 
geben.“ Ahnlich äußerten sich Zwingli und Kalvin 
(Cathrein a. a. O. 599F f). Ein solches Recht des 
Tyrannenmords wurde seitens der Kirche auf dem 
Konzil zu Konstanz 1415 in aller Schärfe in Ab- 
rede gestellt. Und auch die überwiegende Zahl der 
katholischen Gelehrten hat sich gegen eine derartige 
Behauptung ausgesprochen, wenngleich sie darin 
ziemlich einig waren, daß das Volk in seiner Ge- 
samtheit und auf geordnetem Weg im Fall äußer- 
ster, unerträglicher Bedrückung dem Tyrannen den 
Krieg erklären und ihn unter Umständen absetzen 
dürfe, da der Monarch vom Volk die Gewalt unter 
der Bedingung erhalten habe, daß er gerecht und 
nicht tyrannisch regiere, andernfalls das Volk als 
Gesamtheit, als gegliederter sozialer Körper sich 
die oberste Gewalt wieder aneignen, dem Fürsten 
Krieg erklären und ihn vertreiben könne. Das war 
die allgemeine Auffassung im 16. Jahrh. bei Ka- 
tholiken wie Protestanten (Bellarmin 2, lib. 2, 
. 16: Pater familiae, etiamsi pessimus sit, 
nunquam potest a familia expelli, sicut pot- 
est rex, duando degenerat in tyrannum. 
Ahnlich Baßez, De iustit. et iur. q. 64, a. 3; 
Suarez. De bello s. 8, n. 2 usw.; vgl. Cathrein 
#. a. O. 601). 
Unter den neueren Staatsrechtslehrern und 
Rechtsphilosophen herrscht in dieser Frage keines- 
  
Revolution. 
  
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wegs Ubereinstimmung. L. v. Haller, Dahlmann, 
Ahrens, Bluntschli sprechen sich für das Recht 
eines aktiven Widerstands unter gewissen Ein- 
schränkungen aus, ja Rob. v. Mohl lehrt sogar, 
es könne eine vom Sittengesetz gebotene Revolution 
geben (Staatsrecht, Völkerrecht und Politik II 
352); ebenso spricht Ziegler (Sittliches Sein und 
sittliches Werden 114) von einem „Recht zur Re- 
volution“, das in einem tyrannisch regierten Staat 
gegeben sein könne. Andere, wie Stahl, Tren- 
delenburg, Walter, verneinen ein solches unbedingt. 
Der Syllabus verwirft die These (prop. 63): 
Legitimis principibus oboedientiam detrec- 
tare, imo et rebellare licet. 
Von einem Recht der Revolution kann nach 
christlicher Weltanschauung keine Rede sein. Ein 
Recht, den legitimen Fürsten zur Rechenschaft zu 
ziehen, ihm den Gehorsam zu künden oder ihn gar 
zu töten, steht keinem Privatmann zu, weil es die 
Auflösung aller Ordnung bedeutete, wenn es 
jedem unter irgend einem Vorwand freistünde, sich 
gegen die Autorität zu erheben. Davon ist völlig 
verschieden das Recht der Notwehr, welches 
auch der Untertan gegenüber einem vom Fürsten 
gemachten ungerechten Angriff auf Person, Ehre, 
Vermögen, Familie zusteht, außer es würden 
durch Ausübung dieses Rechts schwere öffentliche 
Unruhen, also eine Schädigung der Gesamtheit zu 
befürchten sein. In solchem Fall müßte das Pri- 
vatwohl hinter dem öffentlichen Wohl zurückstehen 
(St Thomas, Summ. theol. 2, 2, d. 69, a. 4). 
Aber auch dem Volk in seiner Gesamtheit kann ein 
Recht der Empörung gegen den legitimen Fürsten 
nicht zugebilligt werden. Ein vermeintliches Recht 
der Kriegserklärung an den Tyrannen existiert 
nicht. Denn dieses Recht ist ein wesentliches Ho- 
heitsrecht der öffentlichen Gewalt; nur der Träger 
der öffentlichen Gewalt darf einem andern den 
Krieg erklären. Ebenso kann nur ein Vorgesetzter 
jemand seines Amts entsetzen, ihn zur Rechenschaft 
ziehen und strafen. Das Volk aber, das einem 
rechtmäßigen Fürsten unterworfen ist, besitzt die 
öffentliche Gewalt nicht. Die Souveränität des 
Volks ist eine Fiktion, und es ist unrichtig, daß 
der Regent immer nur einer Übertragung seitens 
des Volks die öffentliche Gewalt verdanke. Die 
rechtmäßige Obrigkeit ist als Verkörperung einer 
ewigen Idee von Gott gesetzt, ist „von Gottes 
Gnaden“; der Gehorsam gegen sie ist evangeli- 
sches Gesetz. Auch die Obrigkeit, die ihr Recht 
mißbraucht, geht darum ihres Rechts nicht ver- 
lustig; die Apostel ermahnen die Christen, der 
heidnischen wie der jüdischen Obrigkeit trotz ihres 
unberechtigten Verhaltens gegen ihre christlichen 
Untertanen Gehorsam und Ehrfurcht zu bezeigen. 
„Jegliche Seele sei den übergeordneten Gewalten 
untertan; denn es gibt keine Gewalt außer von 
Gott; die es aber sind, sind von Gott gesetzt. 
Wer sich der Gewalt widersetzt, widersetzt sich so- 
nach der Anordnung Gottes; die sich aber wider- 
setzen, werden ihr Gericht empfangen. Gottes
	        
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