Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Gesellschaft birgt in ihrem Schoß eine Reihe von 
Ideen, welche revolutionärer Natur sind und auf 
den mehr oder weniger gewaltsamen Umsturz des 
Bestehenden abzielen. Sie werden vertreten durch 
den Anarchismus und den Sozialismus 
in ihren verschiedenen Schattierungen. Insbeson- 
dere verschmähen die Anarchisten im Gegensatz zu 
den Sozialisten die sog. politischen Mittel, um zu 
ihrem Ziel zu gelangen. Sie appellieren an die 
Gewalt, um möglichst rasch der heutigen Gesell- 
schaft ein Ende zu bereiten. Die Theorie des 
Anarchismus ist nur wenig ausgebildet, wenn er 
auch seine Literaten unter den Begabten der deka- 
denten Boheme gefunden hat. Dagegen werden 
durch haßerfüllte, aufreizende Flugschriften un- 
ruhige Köpfe verwirrt und zu blutiger Gewalt- 
tat aufgestachelt. Der Anarchismus hat, beson- 
ders in Frankreich, „in Künstlerkreisen bei „Im- 
pressionisten“ und „Symbolisten“ viel Sympathie 
und Anhang gefunden, und daher kam es, daß 
manche Künstler der neuen Lehre ihren Griffel 
liehen und so eine Reihe von Zeichnungen schufen, 
welche dem hart schaffenden Arbeitsmann die 
herrschende Ungerechtigkeit und Korruption zur 
lebhaften Anschauung im eigentlichen Sinn 
des Wortes bringen sollten. Wohl selten hat es 
die politische Karikatur zu einem gleichen Zu- 
sammentreffen der Ideen und der künstlerischen 
Ausführung gebracht. Mit wahrhaft infernalischem 
Genie sind die Zeichnungen hingeworfen, welche 
den Leser gleichzeitig zu Hohn, Empörung und 
Nachdenken aufstacheln“ (Adler, Handwörterbuch 
der Staatswissenschaften I2 316). 
Revolutionär ist auch der Sozialismus, der ja 
in seiner Kritik der bestehenden Gesellschaft im 
wesentlichen mit dem Anarchismus übereinstimmt. 
Zwar ist seine Taktik eine ganz andere als die des 
Anarchismus, der durch die „Propaganda der 
Tat“ sein Ziel zu erreichen sucht; aber nichts- 
destoweniger ist der Sozialismus seinem Wesen 
nach revolutionär. Das zeigt sich schon in der 
Entwicklungsgeschichte des Proletariats, das den 
günstigen Nährboden für das Emporkommen der 
revolutionären Leidenschaften bildet (Sombart, 
Sozialismus und soziale Bewegung S. 7). Man 
könnte freilich derartige revolutionäre Ausbrüche 
des proletarischen Klassenbewußtseins wie die eng- 
lische Chartistenbewegung (1837/48) eben als die 
uUnvermeidlichen Wehen bezeichnen, unter denen die 
sozialistische Idee geboren wurde, als die Stürme, 
die eine große Bewegung einleiteten. Aber der 
Sozialismus ist auch nach dem Geständnis seiner 
Hauptvertreter eine wesentlich revolutionäre Partei. 
Freilich flüchten sich diese gern hinter den Doppel- 
sinn des Wortes Revolution. Es gebe auch fried- 
liche, gesetzliche Revolutionen. Mag sein, daß 
manchem der gebildeten und reichen Führer der 
Sozialdemokratie der Gedanke an eine blutige 
Revolution fern liegt, in den Köpfen der Massen 
des Proletariats ist derselbe trotzdem lebendig und 
wirkt mit suggestiver Gewalt in den Gemütern 
Revolution. 
  
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der über ihr hartes Schicksal Verbitterten. Über- 
dies folgt die Revolution auch notwendig aus dem 
Ziel, dem der Sozialismus zustrebt. Es ist ja 
ganz undenkbar, daß jene Kapitalisten, die immer 
als der Ausbund von Egoismus und Herzlosigkeit 
geschildert werden, ihres Besitzes und ihrer Herr- 
schaft sich freiwillig zugunsten des von ihnen bis- 
her mißhandelten Proletariats begeben werden. 
Es gehört in das Gebiet der sozialen Utopien, 
wenn neuestens ein für die Verstaatlichung der 
Produktivmittel begeisterter Schriftsteller meint 
„Die Erschaffung des neuen gesellschaftlichen Sy- 
stems ist eine politische Aufgabe, welche durch 
staatliche Gesetzgebung erledigt werden muß. Es 
wird hierdurch gleichzeitig jener großen Gefahr 
vorgebeugt, daß die Gesellschaft durch ein revo- 
lutionäres Blutbad hindurch in den neuen Zu- 
stand gelange.. Der einzige Weg einer fried- 
lichen Umgestaltung ist der, daß der Staat ohne 
Rücksicht auf Einzelinteressen es unternimmt, unter 
strenger Beobachtung der Gemeinschaftsinteressen 
die Gesellschaft ohne größere Erschütterung, ohne 
Verwicklung und ohne Kraftverlust aus dem alten 
Zustand in die neue Ordnung hinüberzuleiten. 
Der Staat also gestaltet sich um behufs seines 
eignen Wohlstands, seiner eignen Kräftigung, 
im Interesse seines eignen Fortschritts, und zwar 
auf gesetzlichem Weg, in friedlicher Weise, ohne 
jede gewalttätige Operation“ (Samuel Révai, 
Grundbedingungen der gesellschaftlichen Wohlfahrt 
119021 654 f). Auf eine derartige friedliche Um- 
gestaltung scheinen die Führer des Proletariats 
nicht zu hoffen. 
Spricht doch Marx selbst von der kommenden 
Exploitation der bisherigen Exploiteure. Aus- 
drücklich bekannte er sich zur Revolution der Ge- 
walt auf dem Haager Kongreß (Sept. 1872): 
„In den meisten Ländern Europas muß die Ge- 
walt der Hebel unserer Revolutionen sein; an die 
Gewalt wird man seinerzeit appellieren müssen, 
um endlich die Herrschaft der Arbeit zu etablieren.“ 
Im Manifest der kommunistischen Partei, in dem 
Marx den Proletariern aller Länder das „Ver- 
einigt euch!“ zugerufen, hatte es geheißen: „Die 
Kommunisten erklären es offen, daß ihre Zwecke 
nur erreicht werden können durch den gewaltsamen 
Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. 
Mögen die herrschenden Klassen vor einer kom- 
munistischen Revolution zittern.“ Ebenso Lieb- 
knecht, Bebel; letzterer macht sich das Marxrsche 
Wort zu eigen: „Die Gewalt ist der Geburts- 
helfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen 
schwanger geht; sie ist selbst eine ökonomische 
Potenz“ (vgl. derartige Aussprüche bei Käser 
[Klein), Der Sozialdemokrat hat das Wort, 
21898). Nach Lassalle, dem faszinierenden Agi- 
tator der deutschen Sozialdemokratie, würde die 
Revolution heranstürmen „mit ehernen Sohlen 
und wehendem Lockenhaar“, um unter ihren 
Tritten die morsche kapitalistische Gesellschaft zu 
begraben. Und es ist kein Zufall, wenn in der
	        
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