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erstrebt aber einen allmählichen Ubergang zu einer
andern Einkommensverteilung und einer höheren
Staats= und Rechtsordnung. Zur Durchführung
der von ihm vorgeschlagenen Lohnreform postuliert
Rodbertus die Beseitigung des heutigen Lohnver-
trags sowie Einführung eines Normalarbeitstags
und einer Normalarbeitslohnform. „Zu diesem
Zweck ist zunächst die normale Arbeitszeit für
jedes Gewerbe festzustellen, die je nach der Inten-
sität der Arbeit und nach andern Umständen ver-
schieden sein muß. Diese normale Arbeitszeit, die
zwischen sechs und zwölf Stunden schwanken kann,
mag der normale Zeitarbeitstag genannt werden.
Dann werde in jedem Gewerbe das normale Ar-
beitswerk des Zeitarbeitstags festgestellt, d. h. es
werde ermittelt, wieviel Arbeit einer bestimmten
Art ein mittelmäßig tüchtiger und geschickter Ar-
beiter bei mittlerem Fleiß in der normalen Arbeits-
zeit vollbringt. Für jedes solche geleistete Arbeits-
werk erhält der Arbeiter einen normalen Werk-
arbeitstag bezahlt oder bescheinigt, gleichviel ob er
es in einem Zeitarbeitstag oder in einem halben
oder in zweien vollbracht hat. Unter der Autorität
des Staats wird für jedes Gewerk der Lohnsatz für
den Werkarbeitstag festgesetzt; diese Festsetzungen
sind periodisch zu wiederholen und die Lohnsätze
nach der gestiegenen Produktivität entsprechend zu
erhöhen. Um nun zum Arbeitsgeld zu gelangen,
teilt man den normalen Werkarbeitstag, gleichviel
ob der Zeitarbeitstag des betreffenden Gewerbes
6, 8 oder 12 Stunden beträgt, in 10 Werkstunden.
Ein Produkt also, das ein halbes Normalwerk
darstellt, wäre 5 Werkstunden wert, eines, das
fünf Normalwerke enthält, würde 50 Werkstunden
gelten oder vielmehr 60, denn auch die Abnutzung
der Werkzeuge muß nach ihrem Wert, d. h. nach
den darin steckenden Werkstunden, deren 10 sein
mögen, gerechnet werden. So ist der Warenpreis
bestimmt. Was aber den Arbeitslohn betrifft, so
kann dieser nicht dem vollen Normalwerk gleich-
kommen, da ja von diesem auch die Gesellschafts-
bedürfnisse und die Renten zu bestreiten sind.
Angenommen, die gegenwärtige Produktion eines
Staats beliefe sich auf 10 Mill. Normalwerk und
bei der gegenwärtigen Einkommenverteilung und
Besteuerung käme auf den Staat ein Teil, auf
den Grundbesitzer, Kapitalisten und Arbeiter je
drei Teile des Nationaleinkommens, so wären dem
Arbeiter für jedes Normalwerk nicht 10, sondern
3 Werkstunden zu bescheinigen. Die Zettel, auf
denen die geleisteten Werkstunden bescheinigt wer-
den, sind das Geld der Zukunft. Innerhalb der
Produktion ist Geld nicht mehr notwendig, da ja
die Uberführung der Rohprodukte in die Fabriken,
der Halbfabrikate aus einer Fabrik in die andere,
der fertigen Produkte in die Magazine (die heu-
tigen Kaufläden würden durch Staatsmagazine
ersetzt werden), nicht mehr durch Kaufoperationen,
sondern durch bloße Anordnung der Staatsbehör-
den bewerkstelligt werden würde. Das Arbeitsgeld
wäre nur notwendig zur Liquidierung der An-
Rodbertus.
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sprüche der Arbeiter; für soviel Werkstunden, als
der Arbeiter bescheinigt erhält, kann er sich in den
Magazinen Produkte auswählen, deren Preis
ebenfalls in Werkstunden angegeben ist. In der
Übergangszeit, wo, wie gesagt, die bisherigen
Grundbesitzer und Fabrikanten noch unter der
Aussicht und Oberleitung des Staats weiter wirt-
schaften und ihre Rente empfangen, würde das
Metallgeld noch neben dem Arbeitsgeld weiter
kursieren und beide Arten von Geld würden sich
austauschen können, da ja der Wert des Normal-
arbeitswerks jedes Gewerbes nach dem jetzt üblichen
Tagelohn berechnet worden ist. Nach der vollstän-
digen Durchführung der neuen Ordnung würde
man zugleich das vollkommenste Geld und die
vollkommenste Kreditwirtschaft haben, oder viel-
mehr die Geldwirtschaft würde von der echten
Kreditwirtschaft abgelöst sein, die nach dieser Seite
hin das Gesellschaftsideal verwirklichen würde“
(K. Jentsch, Rodbertus 191). Kein Zweifel, daß
dieses Lohnsystem des Rodbertus, wie es K. Jentsch
in vorstehenden Ausführungen in prägnanter Zu-
sammenfassung dargestellt hat, an sich tief gedacht
t und — unter der Voraussetzung praktischer
Ausführbarkeit das Lohnproblem sicherer lösen
würde als die Vorschläge Proudhons und anderer.
Aber utopistisch bleibt das Ideal des Rodbertus
darum doch, von dem er selbst glaubt, daß es erst
nach 500 Jahren (1) verwirklicht werden dürfte
(Briefe und sozialpolitische Aufsätze von Dr Rod-
bertus-Jagetzow, hrsg. von Dr Rud. Meyer 258).
Dietzel hat die Doktrin des Rodbertus als „ein
Gedankengefüge ohne praktische Verwertbarkeit“
bezeichnet. Insofern mit Unrecht, als manche prak-
tisch brauchbare Vorschläge dieses „Sozialisten der
organischen Staatsidee“ schon heute ihre Verwirk-
lichung gefunden haben. Es geht überhaupt nicht
an, Rodbertus als reinen Doktrinär und Utopisten
aufzufassen. „Er hat, wie K. Jentsch (a. a. O.
225) zutreffend hervorhebt, mittelbar einen be-
deutenden Einfluß auf die preußisch-eutsche Gesetz-
gebung ausgeübt. Er hat das Wesen der Gesell-
schaftswirtschaft ergründet und klar gemacht. Er
hat die Unvernunft und die Unsittlichkeit der ka-
pitalistischen Wirtschafts- und Rechtsordnung auf-
gedeckt.“ Darin besteht die praktische Bedeutung
des Mannes, der freilich, wie wir gesehen, seine
Theorie auf eine durchaus falsche Auffassung der
Arbeit gegründet und aufgebaut hat.
Literatur. F. Adickes, Die Bestrebungen zur
Förderung der Arbeiterversicherung in den Jahren
1848 u. 1849 nach K. R.-Jagetzow, in Zeitschrift
für die ges. Staatswissenschaft (1883); G. Adler,
R., der Begründer des wissenschaftl. Sozialismus.
Eine sozialökonom. Studie (1883); ders., R. „Ka-
pital“, in Gegenwart XXV (1884). Aus dem li-
terar. Nachlaß von R., hrsg. von A. Wagner u.
Th. Kozak (1884/85); K. J. Diehl, K. R, im
Handwörterbuch der Staatswissensch. VI (71901);
H. Dietzel, K. R., Darstellung seines Lebens u.
seiner Lehre (1888); ders., Das Problem des literar.
Nachlasses von R., in Jahrbuch für Nationalökon.
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