Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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erstrebt aber einen allmählichen Ubergang zu einer 
andern Einkommensverteilung und einer höheren 
Staats= und Rechtsordnung. Zur Durchführung 
der von ihm vorgeschlagenen Lohnreform postuliert 
Rodbertus die Beseitigung des heutigen Lohnver- 
trags sowie Einführung eines Normalarbeitstags 
und einer Normalarbeitslohnform. „Zu diesem 
Zweck ist zunächst die normale Arbeitszeit für 
jedes Gewerbe festzustellen, die je nach der Inten- 
sität der Arbeit und nach andern Umständen ver- 
schieden sein muß. Diese normale Arbeitszeit, die 
zwischen sechs und zwölf Stunden schwanken kann, 
mag der normale Zeitarbeitstag genannt werden. 
Dann werde in jedem Gewerbe das normale Ar- 
beitswerk des Zeitarbeitstags festgestellt, d. h. es 
werde ermittelt, wieviel Arbeit einer bestimmten 
Art ein mittelmäßig tüchtiger und geschickter Ar- 
beiter bei mittlerem Fleiß in der normalen Arbeits- 
zeit vollbringt. Für jedes solche geleistete Arbeits- 
werk erhält der Arbeiter einen normalen Werk- 
arbeitstag bezahlt oder bescheinigt, gleichviel ob er 
es in einem Zeitarbeitstag oder in einem halben 
oder in zweien vollbracht hat. Unter der Autorität 
des Staats wird für jedes Gewerk der Lohnsatz für 
den Werkarbeitstag festgesetzt; diese Festsetzungen 
sind periodisch zu wiederholen und die Lohnsätze 
nach der gestiegenen Produktivität entsprechend zu 
erhöhen. Um nun zum Arbeitsgeld zu gelangen, 
teilt man den normalen Werkarbeitstag, gleichviel 
ob der Zeitarbeitstag des betreffenden Gewerbes 
6, 8 oder 12 Stunden beträgt, in 10 Werkstunden. 
Ein Produkt also, das ein halbes Normalwerk 
darstellt, wäre 5 Werkstunden wert, eines, das 
fünf Normalwerke enthält, würde 50 Werkstunden 
gelten oder vielmehr 60, denn auch die Abnutzung 
der Werkzeuge muß nach ihrem Wert, d. h. nach 
den darin steckenden Werkstunden, deren 10 sein 
mögen, gerechnet werden. So ist der Warenpreis 
bestimmt. Was aber den Arbeitslohn betrifft, so 
kann dieser nicht dem vollen Normalwerk gleich- 
kommen, da ja von diesem auch die Gesellschafts- 
bedürfnisse und die Renten zu bestreiten sind. 
Angenommen, die gegenwärtige Produktion eines 
Staats beliefe sich auf 10 Mill. Normalwerk und 
bei der gegenwärtigen Einkommenverteilung und 
Besteuerung käme auf den Staat ein Teil, auf 
den Grundbesitzer, Kapitalisten und Arbeiter je 
drei Teile des Nationaleinkommens, so wären dem 
Arbeiter für jedes Normalwerk nicht 10, sondern 
3 Werkstunden zu bescheinigen. Die Zettel, auf 
denen die geleisteten Werkstunden bescheinigt wer- 
den, sind das Geld der Zukunft. Innerhalb der 
Produktion ist Geld nicht mehr notwendig, da ja 
die Uberführung der Rohprodukte in die Fabriken, 
der Halbfabrikate aus einer Fabrik in die andere, 
der fertigen Produkte in die Magazine (die heu- 
tigen Kaufläden würden durch Staatsmagazine 
ersetzt werden), nicht mehr durch Kaufoperationen, 
sondern durch bloße Anordnung der Staatsbehör- 
den bewerkstelligt werden würde. Das Arbeitsgeld 
wäre nur notwendig zur Liquidierung der An- 
Rodbertus. 
  
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sprüche der Arbeiter; für soviel Werkstunden, als 
der Arbeiter bescheinigt erhält, kann er sich in den 
Magazinen Produkte auswählen, deren Preis 
ebenfalls in Werkstunden angegeben ist. In der 
Übergangszeit, wo, wie gesagt, die bisherigen 
Grundbesitzer und Fabrikanten noch unter der 
Aussicht und Oberleitung des Staats weiter wirt- 
schaften und ihre Rente empfangen, würde das 
Metallgeld noch neben dem Arbeitsgeld weiter 
kursieren und beide Arten von Geld würden sich 
austauschen können, da ja der Wert des Normal- 
arbeitswerks jedes Gewerbes nach dem jetzt üblichen 
Tagelohn berechnet worden ist. Nach der vollstän- 
digen Durchführung der neuen Ordnung würde 
man zugleich das vollkommenste Geld und die 
vollkommenste Kreditwirtschaft haben, oder viel- 
mehr die Geldwirtschaft würde von der echten 
Kreditwirtschaft abgelöst sein, die nach dieser Seite 
hin das Gesellschaftsideal verwirklichen würde“ 
(K. Jentsch, Rodbertus 191). Kein Zweifel, daß 
dieses Lohnsystem des Rodbertus, wie es K. Jentsch 
in vorstehenden Ausführungen in prägnanter Zu- 
sammenfassung dargestellt hat, an sich tief gedacht 
t und — unter der Voraussetzung praktischer 
Ausführbarkeit das Lohnproblem sicherer lösen 
würde als die Vorschläge Proudhons und anderer. 
Aber utopistisch bleibt das Ideal des Rodbertus 
darum doch, von dem er selbst glaubt, daß es erst 
nach 500 Jahren (1) verwirklicht werden dürfte 
(Briefe und sozialpolitische Aufsätze von Dr Rod- 
bertus-Jagetzow, hrsg. von Dr Rud. Meyer 258). 
Dietzel hat die Doktrin des Rodbertus als „ein 
Gedankengefüge ohne praktische Verwertbarkeit“ 
bezeichnet. Insofern mit Unrecht, als manche prak- 
tisch brauchbare Vorschläge dieses „Sozialisten der 
organischen Staatsidee“ schon heute ihre Verwirk- 
lichung gefunden haben. Es geht überhaupt nicht 
an, Rodbertus als reinen Doktrinär und Utopisten 
aufzufassen. „Er hat, wie K. Jentsch (a. a. O. 
225) zutreffend hervorhebt, mittelbar einen be- 
deutenden Einfluß auf die preußisch-eutsche Gesetz- 
gebung ausgeübt. Er hat das Wesen der Gesell- 
schaftswirtschaft ergründet und klar gemacht. Er 
hat die Unvernunft und die Unsittlichkeit der ka- 
pitalistischen Wirtschafts- und Rechtsordnung auf- 
gedeckt.“ Darin besteht die praktische Bedeutung 
des Mannes, der freilich, wie wir gesehen, seine 
Theorie auf eine durchaus falsche Auffassung der 
Arbeit gegründet und aufgebaut hat. 
Literatur. F. Adickes, Die Bestrebungen zur 
Förderung der Arbeiterversicherung in den Jahren 
1848 u. 1849 nach K. R.-Jagetzow, in Zeitschrift 
für die ges. Staatswissenschaft (1883); G. Adler, 
R., der Begründer des wissenschaftl. Sozialismus. 
Eine sozialökonom. Studie (1883); ders., R. „Ka- 
pital“, in Gegenwart XXV (1884). Aus dem li- 
terar. Nachlaß von R., hrsg. von A. Wagner u. 
Th. Kozak (1884/85); K. J. Diehl, K. R, im 
Handwörterbuch der Staatswissensch. VI (71901); 
H. Dietzel, K. R., Darstellung seines Lebens u. 
seiner Lehre (1888); ders., Das Problem des literar. 
Nachlasses von R., in Jahrbuch für Nationalökon. 
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