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wie von selbst gegeben: der Reichtum verhält sich
zur Tugend wie das Gepäck zu einem Heer
(Bacon). So urteilt schon Kenophon: aller Reich-
tum ist nur demjenigen etwas nutze, der ihn recht
zu gebrauchen weiß. Der Glücklichste in wirt-
schaftlicher Beziehung ist derjenige, welcher das
meiste recht erworben hat und schön benutzt
(System I, § 21). „In überkultivierten, ja schon
sinkenden Zeitaltern pflegt sich eine bewußte
Üüberschätzung der materiellen Interessen breit zu
machen, wo denn freilich ein kurzsichtiger Egois-
mus mit den höheren Lebensgütern zugleich seine
eigne Zukunft opfert. Aber nur derjenige ist vor
solcher Uberschätzung sicher, der bei seiner Be-
urteilung der materiellen Interessen immer das
lebendige Ganze vor Augen hat, von dem sie nur
eine Seite bilden: den ganzen Menschen, das
ganze Volk, die ganze Menschheit“ (Anm. 1 zu
System I. § 17). Über die bloße Chrematistik
hinaus gibt Roscher so der Nationalökonomie den
lebenspendenden Kontakt mit den andern Wissen-
schaften vom Volksleben und damit ihre univer-
sale organische Stellung. In dem ersten Band
seines „Systems der Volkswirtschaft" (Grund-
lagen der Nationalökonomie) bestimmt Roscher
daher die Nationalökonomik als die „Lehre von
den Entwicklungsgesetzen der Volkswirtschaft“
(I., § 16) im Reigen der „Wissenschaften vom
Volksleben“. „Wie alle Wissenschaften vom
Volksleben“ knüpft sie einerseits an die Betrach-
tung des einzelnen Menschen an. Sie erweitert
sich auf der andern Seite zur Erforschung der
ganzen Menschheit. Wie jedes Leben, so ist auch
das Volksleben ein Ganzes, dessen verschieden-
artige Außerungen im Innersten zusammenhängen.
Wer daher eine Seite derselben wissenschaftlich
verstehen will, der muß alle Seiten kennen. Und
zwar sind es vornehmlich sieben Seiten, welche
hier in Betracht kommen: Sprache, Religion,
Kunst, Wissenschaft, Recht, Staat und Wirtschaft.
„Ohne Sprache ist überhaupt keine höhere
Geistestätigkeit denkbar, ohne Religion würden
alle übrigen ihres tiefsten Grundes und höchsten
Zieles entbehren. Nur durch Kunst drängen sie
zur Schönheit, nur durch Wissenschaft zur
Klarheit durch; dem Recht fallen sie anheim, sobald
sie Willenskonflikte nicht vermeiden können und
friedlich austragen wollen, dem Staat, sofern sie
überhaupt äußere Geltung haben. So hat endlich
jedes menschliche Verhältnis, selbst das erhabenste
und füßeste nicht ausgenommen, seine wirtschaft-
lichen Interessen. — Natürlich muß dann auch
von den Wissenschaften, welche diese Lebensgebiete
verarbeiten, jede einzelne die übrigen teils voraus-
setzen teils begründen helfen. Inmitten dieser all-
gemeinen Verwandtschaft ist jedoch leicht zu sehen,
daß Recht, Staat und Wirtschaft eine be-
sondere, gleichsam engere Familie bilden (soziale
Wissenschaften im engeren Sinn). Sie beschränken
sich fast ausschließlich auf das sog. wirksame
Handeln (von Schleiermacher so genannt), während
Kunst und Wissenschaft fast gänzlich dem dar-
stellenden Handeln angehören, Religion aber
Staatslegikon. IV. 3. u. 4. Aufl.
Roscher.
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und Sprache beide Arten vereinigen. Auch wurzeln
Recht, Staat und Wirtschaft dermaßen in
der geistigen und leiblichen Unvollkommenheit, daß
ihre Fortdauer über das irdische Leben hinaus
kaum denkbar erscheint. Innerhalb dieser Grenze
sind die Gebiete, die Gegenstände ihres Wirkens,
fast kongruent, nur daß sie dieselben aus ver-
schiedenen Gesichtspunkten her betrachten: die
Staatswissenschaft aus dem der Sonveräni-
tät, die Nationalökonomik aus dem der Befriedi-
gung des Volksbedarfs an äußern Gütern, die
Rechtswissenschaft aus dem der Verhütung
oder friedlichen Austragung von Willenskonflikten
(in zahllosen Fällen gibt uns die Rechtswissenschaft
nur das äußere Wie, erst die Nationalökonomie
fügt das tiefere Warum hinzu).
b) Die so erfaßte Nationalökonomik in ihrem
lebensvollen Zusammenhang mit allen Wissen-
schaften vom Volksleben bringt Roscher in einer
hauptsächlich nach ihm genannten besondern, der
„geschichtlichen oder physiologischen Methode“
zur Darstellung. Über dieselbe läßt er sich bereits
1843 in der Vorrede zum „Grundriß zu Vor-
lesungen über die Staatswirtschaft nach geschicht-
licher Methode“ folgendermaßen aus: „Die
historische Methode zeigt sich nicht allein
äußerlich in der, wo es irgend angeht, chronolo-
gischen Reihenfolge der Gegenstände, sondern vor-
nehmlich in folgenden Grundsätzen: 1) Die
Staatswirtschaft ist nicht eine bloße Chrematistik,
eine Kunst, reich zu werden, sondern eine politische
Wissenschaft, wo es darauf ankommt, Menschen
zu beurteilen, Menschen zu beherrschen. Unser Ziel
ist die Darstellung dessen, was die Völker in wirt-
schaftlicher Hinsicht gedacht, gewollt und empfun-
den, was sie erstrebt und erreicht, warum sie es
erstrebt und warum sie es erreicht haben. 2) Das
Volk ist nicht bloß die Masse der heute lebenden
Individuen. Wer deshalb die Volkswirtschaft er-
sorschen will, hat unmöglich genug an den Be-
obachtungen bloß der heutigen Wirtschaftsverhält-
nisse. 3) Die Schwierigkeit, aus der großen Masse
von Erfahrungen das Wesentliche, Gesetzmäßige
herauszufinden, fordert uns dringend auf, alle
Völker, deren wir irgend habhaft werden können,
in wirtschaftlicher Hinsicht miteinander zu ver-
gleichen. Insbesondere sind die alten Völker be-
lehrend, da ihre Entwicklung jedenfalls ganz be-
endigt vor uns liegt. Wo sich also in der neuen
Volkswirtschaft eine Richtung, der alten ähnlich,
nachweisen ließe, da hätten wir für die Beurteilung
derselben in dieser Parallele einen unschätzbaren
Leitfaden. 4) Die historische Methode wird nicht
leicht irgend ein wirtschaftliches Institut schlechthin
loben oder schlechthin tadeln, wie es denn auch nur
wenige Institute gegeben hat, die für alle Völker,
alle Kulturstufen heilsam oder verderblich wären.“
— „Man sieht, diese Methode will für die Staats-
wirtschaft etwas Gleiches erreichen, was die Savi-
gny-Eichhornsche Methode für die Jurisprudenz
erreicht hat. Der Schule Ricardos liegt sie fern,
wenn sie auch an sich derselben keineswegs oppo-
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