Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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schaftslehre, 1905) nennt sie „jenes bewunderns- 
werte Denkmal der Gelehrsamkeit und des Fleißes“. 
Fassen wir zusammen, so ist zu sagen: Roscher, 
eine vornehme Gelehrtennatur, wollte „nirgends 
einstürzen, sondern langsam umbauen. Er will 
ebensosehr dogmatischer Nationalökonom bleiben, 
als die Sätze der alten historischen Schule ver- 
tiefen. Er steht zwischen zwei wissen- 
schaftlichen Epochen mitten inne, er 
schließt die ältere Zeit ab und eröffnet die neue; 
er hat mehr als alle andern dafür getan, die Na- 
tionalökonomie auf das Niveau gelehrter syste- 
matischer Facharbeit und historischer Kausalunter- 
suchung zu erheben“ (Schmoller a. a. O. 170), 
und Julius Wolf bekennt (Beilage zur Allgem. 
Zeitung (/1894 ]Nr 180);: „Unter allen Umständen 
gebührt Roscher der Ruhm, die methodologische 
Frage für das Gebiet der Nationalökonomie an- 
geregt, das Samenkorn des Historismus gepflanzt, 
den geschichtlichen Sinn seiner Zeit geweckt, im 
Verein mit andern genährt und zu einem jener 
ihrer Attribute entfaltet zu haben, deren sie sich 
überhaupt nicht mehr entäußern kann, ohne einen 
Teil ihrer selbst preiszugeben."“ 
Wenn auch Roschers Leistung, wie dies von aller 
menschlichen Wissenschaft gilt, nicht als eine für alle 
Zeit abgeschlossene und jede Verbesserung und Er- 
gänzung ausschließende anzusehen ist, was Roscher 
am allerwenigsten für sich in Anspruch nahm, so 
bedeutet doch eine neuerliche, absprechende Art der 
Beurteilung Roschers und anderer Größen der 
historischen Schule eine völlige Unterschätzung (vgl. 
F. Demuth,. F. Th. v. Bernhardi [1900 schon 
allein im Hinblick auf die epochale literarische Ein- 
wirkung Roschers. Eisenhart (Geschichte der Na- 
tionalökonomik 11910|)) schreibt ihm vielmehr 
treffend ein „unschätzbares Verdienst zu, durch das 
er sich den ersten Meistern der Wissenschaft als 
ein Reformator derselben angereiht hat“, sofern 
er nämlich dem besonders von List „angeregten 
Ideenkreis einer organischen Volkswirtschaft über 
kurz oder lang zu einer allseitigen und methodischen 
Ausführung“ verhalf (a. a. O. 184). Die Ver- 
dienste anderer werden nicht geschmälert, wenn 
Eisenhart von Roscher sagt: „Er hat in der Tat 
der Wissenschaft ein neues Bett gegraben. Er 
darf sich rühmen, den Geist der Nation für 
eine realistische Behandlung der wirtschaftlichen 
Dinge und eine erhaltende Politik zu einer Zeit 
erzogen zu haben, wo ihr die Leitung ihrer ins 
Große gewachsenen Geschichte in die eigne Hand 
zurückgegeben werden sollte und sie der besseren 
Einsicht am meisten bedürftig wurde. — So be- 
ginnt mit ihm das goldene Zeitalter der deutschen 
Nationalökonomik, ihre Entfesselung von der Auto- 
rität der fremden Lehrmeister und vom Handwerk 
der Kompendienschreiber zur nationalen Entfal- 
tung, die auch die Verheißung der Zukunft für 
sich hat, daß sie dasjenige, was sie geboren und 
allein zu gebären fähig war, auch zur Vollendung 
hinausführen werde“ (a. a. O. 191 192). 
Roscher. 
  
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Über die Unfertigkeit der historischen Schule in 
ihrem gegenwärtigen Bestand vgl. Eisenhart 223 
bis 244; vgl. auch a. a. O. 189 über die Schwie- 
rigkeit der Aufgabe, die sich Roscher gesteckt. ÜUber 
die historische Schule vgl. auch d. Art. Volks- 
wirtschaftslehre. 
IV. Roschers Stellung zur positiven 
Weltanschauung. Im Vorwort zu dem nach 
Roschers Tod herausgegebenen fünften Band seines 
„Systems“ (Armenpflege und Armenpolitik)konnte 
Dr Karl Roscher von seinem Vater sagen: „Seine 
(Roschers) Art, die Wissenschaft zu behandeln, 
und sein Christentum waren nicht im Widerspruch, 
sondern im Einklang miteinander. Er wollte durch 
seine Schriften und Vorlesungen Gottes Reich 
des Wahren und Guten fördern.“ Dem entspricht 
bereits die Rede des 16jährigen Roscher zum 
Königsgeburtstag am 28. Mai 1843 am Lyzeum 
zu Hannover, in der er unter dem Titel „Die 
Weihe der Wissenschaft“ betont, wie „ für sich 
allein stehend die Wissenschaft nicht fähig ist, den 
Menschen seiner Bestimmung entgegenzuführen; 
es müsse hinzukommen: ein frommer Glaube, der 
das, was der Verstand erfaßt, mit dem gött- 
lichen Urquell alles geistigen Lebens in Bezug setzt, 
— eine aufrichtige Demut, die der menschlichen 
Ohnmacht und der Größe des noch unbebauten 
Feldes und dessen sich bewußt bleibt, daß alle 
menschliche Fähigkeit das Eigentum ihres Schöpfers 
ist, daß der Mensch nur deren Nießbrauch hat und 
von ihrer Benutzung einst Rechenschaft ablegen 
muß; — endlich tätige Liebe, die alle Menschen 
mit gleicher Teilnahme umfaßt wie das eigne Ich, 
die aber auch das lebendige Streben hervorruft, 
das ganze Menschengeschlecht in seinen höheren 
Interessen weiter zu fördern, die der Wissenschaft 
ihr heiliges Ziel und ihre segensreiche Anwendung 
gibt“ (s. Geistliche Gedanken eines Nationalöko- 
nomen 1218961, Vorwort). Auch dem Sozialis- 
mus gegenüber betont Roscher die Stärke der 
Heilmittel im Christentum und christlicher Liebe: 
„Das einzige Schutz= und Heilmittel gegen zer- 
störenden falschen Sozialismus ist jener bauende, 
ewig wahre Sozialismus, der alle Menschen als 
Kinder des himmlischen Vaters unter dem Erst- 
gebornen Jesus Christus betrachtet. Man sieht, 
wie das Christentum die Rettungsfahne ist für 
alle Einfältigen, geistlich AUrmen und nicht bloß 
der einzelnen, sondern auch der Völker als solche; 
zugleich aber, wie diese universalste, ja einzig 
universale Religion nichts weniger ist als eine 
Beschädigung der Nationalität, vielmehr auch sie 
ihrer hohen Aufgabe, alles wahrhaft Menschliche 
zu vergöttlichen und ebendadurch in seiner Wahr- 
heit zu erhalten, gerecht wird“ (s. Geistliche Ge- 
danken eines Nationalökonomen 121896] 56; 
vgl. auch V. Boehmert im „Arbeiterfreund“, 
Jahrg. 1894). Dem entspricht die Stellung, 
welche Roscher vor allem deutlich und bekenntnis- 
freudig der Religion und den sittlichen Einflüssen 
in der Volkswirtschaft überhaupt einräumt: „Ohne
	        
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