Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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und Weiteres entbehrt man nicht, weil man es 
nicht kennt. 
Mit der Ausbreitung des Menschengeschlechts 
kommen neue Quellen des Erwerbs der Lebens- 
mittel und ihrer Bearbeitung. Der Mensch wird 
Herr über die Tiere (Jagd) und lernt das Feuer 
kennen. Die Menschen schließen sich nunmehr in Fa- 
milien und in Horden zusammen, bauen Hütten, 
vervollkommnen die Sprache, verfeinern durch die 
Pietätsverhältnisse in der Familie und Horde die 
Empfindungen und entwickeln die Anfänge der 
Moral. Es ist die erste Umwälzung, der Zustand 
der meisten Wilden, wie der Karaiben, die von 
Rousseau in ähnlicher Absicht, jedoch mit noch 
unendlich stärkerer Ubertreibung und Verkennung 
der Schattenseiten dem Frankreich Voltaires gegen- 
übergestellt werden, wie von Tacitus die Ger- 
manen dem Rom der Kaiserzeit. Dieser Zu- 
stand — er gehört, wie der Urzustand, gleichfalls 
noch dem kulturlosen Naturzustand an — ist der 
glücklichste, da er ebenso von der Indolenz des 
Urzustands, wie von der begehrlichen Geschäftig- 
keit der Jetztzeit absteht. 
Ein eigentliches Eigentum kennt jenes Stadium 
noch nicht; nur die Früchte, welche die Erde bietet, 
nicht die Erde selbst, werden von dem einzelnen 
beansprucht. Aber durch die Einführung des 
Ackerbaus und die damit verbundene Erfindung 
der Bearbeitung der Metalle vollzieht sich die 
neue große Umwälzung, die den Zustand der 
Kultur vom Naturzustand abtrennt. Eisen und 
Getreide haben den Menschen zivilisiert, aber auch 
viel Unheil über ihn gebracht. Das entscheidende 
Moment jener großen Umwälzung ist in der Ein- 
führung des Privateigentums gelegen. Ursprüng- 
lich hatte dasselbe nur die durch Arbeit erworbenen 
Produkte zum Inhalt (hier liegt der Ansatz zu 
Fichtes Eigentumsbegriff); aber da diese Er- 
werbung des Eigentums an den Bodenprodukten 
(den Feldfrüchten) sich Jahr um Jahr wieder- 
holte, so ging sie auf den Grund und Boden selbst 
über. Das Eigentum aber ist nach Rousseau die 
Quelle all der Übel, die mit dem in der gesell- 
schaftlichen Vereinigung herrschenden Zwang und 
der dadurch befestigten Ungleichheit verbunden sind. 
„Der erste, der ein Stück Land umzäunte und er- 
klärte: Dies gehört mir, und der Leute fand, ein- 
fältig genug, das zu glauben, war der wahre Be- 
gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viel 
Verbrechen, Krieg und Mord, wie viel Elend und 
Schrecken wäre nicht den Menschen erspart ge- 
blieben, wenn jemand die Umzäunung nieder- 
gerissen oder den Graben zugeschüttet und den 
andern zugerufen hätte: Hütet euch, auf diesen 
Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr 
vergeßt, daß die Früchte allen zustehen, das Land 
aber keinem.“ — Man hat auf Grund dieser oft 
zitierten Worte Rousseau vielfach zum Kom- 
munisten gestempelt (wobei die Schlußworte: et 
due la terre n’est à personne, gewöhnlich unter- 
drückt werden). In der Tat liegt in dieser Phan- 
Rousseau. 
  
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tasie über den Urzustand nichts Kommunistisches 
für Gegenwart oder Zukunft. Denn daß der 
eigentumslose Naturzustand je wiederkehren solle, 
ist nicht Rousseaus Meinung. Die Entstehung der 
Gesellschaft und des Gesetzes hat „sans retour“ 
die natürliche Freiheit zerstört und das Gesetz des 
Eigentums für immer befestigt; und darum will 
auch der Contrat social das Eigentum nicht ab- 
schaffen, sondern sucht zu zeigen, wie im freien 
Rechtsstaat, der den Gewaltstaat ablösen soll, das 
bloße Innehaben zu einem wahren Eigentum für 
den einzelnen wird. Der Begriff eines staatlichen 
oder gesellschaftlichen Gemeinschaftseigen--- 
tums aber ist Rousseau überhaupt völlig fremd, 
damals wie später. Auch nach dem Contrat so- 
cial hat der Staat (trotz der leicht mißverständ- 
lichen Außerungen, 1 9) kein kommunistisches 
Eigentumsrecht, da er nach diesem Werk über- 
haupt keine subjektiven Rechte hat, sondern Gesetz- 
geber ist. 
Durch das Privateigentum entstand der Unter- 
schied von arm und reich und damit der fort- 
währende Kampf zwischen den Usurpationen der 
Reichen und den Räubereien der Armen. So 
charakterisiert bei Rousseau das bellum omnium 
contra omnes nicht, wie bei Hobbes, den Natur- 
zustand, sondern den Beginn des Kulturzustands; 
denn auch Künste und Wissenschaften läßt er nun- 
mehr entstehen. Das Ende dieses Zustands all- 
gemeiner Unsicherheit wird durch die im kapitalisti- 
schen Interesse („kapitalistisch“ im weiteren Sinn) 
geschehene und von kapitalistischer Seite erfolgte 
Staaten gründung herbeigeführt. Ein „Reicher“ 
schlägt zur Sicherung des Besitzes vor, eine Rechts- 
ordnung aufzustellen und diese dadurch zu sichern, 
daß man die Kräfte aller in einer höchsten Ge- 
walt vereinigt. Er findet Gläubige; man stellt 
eine Verfassung auf — eine monarchische, aristo- 
kratische oder demokratische, je nach der größeren 
oder geringeren Konzentration des Reichtums — 
und wählt dann eine Obrigkeit, deren Gewalt 
später meist erblich wird. So sucht Rousseau die 
Staatengründung einförmig auf kapitalistischer 
Basis zu erklären. Die Eroberungstheorie ver- 
wirft er ebenso wie die Ableitung des Staats aus 
einer Vereinigung der Schwachen; nicht minder 
die patriarchalische Theorie Filmers u. a., hier 
an Algernon Sidney und Locke sich anschließend. 
Noch lebhafter aber polemisiert er gegen eine im 
damaligen Naturrecht mehrfach vertretene Theorie, 
nach der es dem Menschen natürlich ist, sich unter 
die Herrschaft zu begeben. Vollends ein ungleich- 
seitiger Kontrakt auf Dienstbarkeit, wie Grotius 
und Pufendorf ihn für rechtlich zulässig halten, 
der nur der einen Seite Rechte, der andern nur 
Pflichten gibt, ist nach ihm innerlich unmöglich. 
Er würde ein Vertrag auf Sklaverei sein; der 
Freiheit aber als eines natürlichen Gutes kann 
niemand sich begeben, wie das bei dem nur auf 
Konvention beruhenden Eigentum der Fall ist, 
nicht für sich und noch weniger für seine Nach-
	        
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