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und Weiteres entbehrt man nicht, weil man es
nicht kennt.
Mit der Ausbreitung des Menschengeschlechts
kommen neue Quellen des Erwerbs der Lebens-
mittel und ihrer Bearbeitung. Der Mensch wird
Herr über die Tiere (Jagd) und lernt das Feuer
kennen. Die Menschen schließen sich nunmehr in Fa-
milien und in Horden zusammen, bauen Hütten,
vervollkommnen die Sprache, verfeinern durch die
Pietätsverhältnisse in der Familie und Horde die
Empfindungen und entwickeln die Anfänge der
Moral. Es ist die erste Umwälzung, der Zustand
der meisten Wilden, wie der Karaiben, die von
Rousseau in ähnlicher Absicht, jedoch mit noch
unendlich stärkerer Ubertreibung und Verkennung
der Schattenseiten dem Frankreich Voltaires gegen-
übergestellt werden, wie von Tacitus die Ger-
manen dem Rom der Kaiserzeit. Dieser Zu-
stand — er gehört, wie der Urzustand, gleichfalls
noch dem kulturlosen Naturzustand an — ist der
glücklichste, da er ebenso von der Indolenz des
Urzustands, wie von der begehrlichen Geschäftig-
keit der Jetztzeit absteht.
Ein eigentliches Eigentum kennt jenes Stadium
noch nicht; nur die Früchte, welche die Erde bietet,
nicht die Erde selbst, werden von dem einzelnen
beansprucht. Aber durch die Einführung des
Ackerbaus und die damit verbundene Erfindung
der Bearbeitung der Metalle vollzieht sich die
neue große Umwälzung, die den Zustand der
Kultur vom Naturzustand abtrennt. Eisen und
Getreide haben den Menschen zivilisiert, aber auch
viel Unheil über ihn gebracht. Das entscheidende
Moment jener großen Umwälzung ist in der Ein-
führung des Privateigentums gelegen. Ursprüng-
lich hatte dasselbe nur die durch Arbeit erworbenen
Produkte zum Inhalt (hier liegt der Ansatz zu
Fichtes Eigentumsbegriff); aber da diese Er-
werbung des Eigentums an den Bodenprodukten
(den Feldfrüchten) sich Jahr um Jahr wieder-
holte, so ging sie auf den Grund und Boden selbst
über. Das Eigentum aber ist nach Rousseau die
Quelle all der Übel, die mit dem in der gesell-
schaftlichen Vereinigung herrschenden Zwang und
der dadurch befestigten Ungleichheit verbunden sind.
„Der erste, der ein Stück Land umzäunte und er-
klärte: Dies gehört mir, und der Leute fand, ein-
fältig genug, das zu glauben, war der wahre Be-
gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viel
Verbrechen, Krieg und Mord, wie viel Elend und
Schrecken wäre nicht den Menschen erspart ge-
blieben, wenn jemand die Umzäunung nieder-
gerissen oder den Graben zugeschüttet und den
andern zugerufen hätte: Hütet euch, auf diesen
Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr
vergeßt, daß die Früchte allen zustehen, das Land
aber keinem.“ — Man hat auf Grund dieser oft
zitierten Worte Rousseau vielfach zum Kom-
munisten gestempelt (wobei die Schlußworte: et
due la terre n’est à personne, gewöhnlich unter-
drückt werden). In der Tat liegt in dieser Phan-
Rousseau.
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tasie über den Urzustand nichts Kommunistisches
für Gegenwart oder Zukunft. Denn daß der
eigentumslose Naturzustand je wiederkehren solle,
ist nicht Rousseaus Meinung. Die Entstehung der
Gesellschaft und des Gesetzes hat „sans retour“
die natürliche Freiheit zerstört und das Gesetz des
Eigentums für immer befestigt; und darum will
auch der Contrat social das Eigentum nicht ab-
schaffen, sondern sucht zu zeigen, wie im freien
Rechtsstaat, der den Gewaltstaat ablösen soll, das
bloße Innehaben zu einem wahren Eigentum für
den einzelnen wird. Der Begriff eines staatlichen
oder gesellschaftlichen Gemeinschaftseigen---
tums aber ist Rousseau überhaupt völlig fremd,
damals wie später. Auch nach dem Contrat so-
cial hat der Staat (trotz der leicht mißverständ-
lichen Außerungen, 1 9) kein kommunistisches
Eigentumsrecht, da er nach diesem Werk über-
haupt keine subjektiven Rechte hat, sondern Gesetz-
geber ist.
Durch das Privateigentum entstand der Unter-
schied von arm und reich und damit der fort-
währende Kampf zwischen den Usurpationen der
Reichen und den Räubereien der Armen. So
charakterisiert bei Rousseau das bellum omnium
contra omnes nicht, wie bei Hobbes, den Natur-
zustand, sondern den Beginn des Kulturzustands;
denn auch Künste und Wissenschaften läßt er nun-
mehr entstehen. Das Ende dieses Zustands all-
gemeiner Unsicherheit wird durch die im kapitalisti-
schen Interesse („kapitalistisch“ im weiteren Sinn)
geschehene und von kapitalistischer Seite erfolgte
Staaten gründung herbeigeführt. Ein „Reicher“
schlägt zur Sicherung des Besitzes vor, eine Rechts-
ordnung aufzustellen und diese dadurch zu sichern,
daß man die Kräfte aller in einer höchsten Ge-
walt vereinigt. Er findet Gläubige; man stellt
eine Verfassung auf — eine monarchische, aristo-
kratische oder demokratische, je nach der größeren
oder geringeren Konzentration des Reichtums —
und wählt dann eine Obrigkeit, deren Gewalt
später meist erblich wird. So sucht Rousseau die
Staatengründung einförmig auf kapitalistischer
Basis zu erklären. Die Eroberungstheorie ver-
wirft er ebenso wie die Ableitung des Staats aus
einer Vereinigung der Schwachen; nicht minder
die patriarchalische Theorie Filmers u. a., hier
an Algernon Sidney und Locke sich anschließend.
Noch lebhafter aber polemisiert er gegen eine im
damaligen Naturrecht mehrfach vertretene Theorie,
nach der es dem Menschen natürlich ist, sich unter
die Herrschaft zu begeben. Vollends ein ungleich-
seitiger Kontrakt auf Dienstbarkeit, wie Grotius
und Pufendorf ihn für rechtlich zulässig halten,
der nur der einen Seite Rechte, der andern nur
Pflichten gibt, ist nach ihm innerlich unmöglich.
Er würde ein Vertrag auf Sklaverei sein; der
Freiheit aber als eines natürlichen Gutes kann
niemand sich begeben, wie das bei dem nur auf
Konvention beruhenden Eigentum der Fall ist,
nicht für sich und noch weniger für seine Nach-