Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

727 
kommen. Der Despotismus steht nach Rousseau 
nicht am Anfang der Geschichte, sondern ist erst 
Entartung. Rousseau selbst stellt sich — seine eigne, 
im Contrat social entwickelte Theorie vorläufig 
noch beiseite schiebend — hier noch auf den 
Standpunkt des Herrschaftsvertrags, und zwar 
etwa in der Form, wie die Monarchomachen ihn 
vertraten, also eines Vertrags, der beiden Seiten 
Rechte und Pflichten gibt, aber bereits schon dos 
Volk als die eigentlichen Auftraggeber (commet- 
tants) erscheinen läßt, die ebenso ihre Abhängig- 
keit aufkündigen dürfen, wie die Magistrate auf 
ihre Rechte Verzicht leisten können. Die Theorie 
der ursprünglichen und bleibenden Souveränität 
des Volks ist also — freilich in recht unorgani- 
scher Form — bereits hier ausgesprochen. 
Durch die Einführung einer Obrigkeit im 
Staat ist zu der Ungleichheit von Armen und 
Reichen die von Starken und Schwachen getreten. 
Aber dabei bleibt es nicht. Die bloß auf den 
Besitz und die durch diesen gegebene Macht auf- 
gebaute, durch den Herrschaftsvertrag indes in 
gesetzliche Form gebrachte und gesetzlich regierende 
Staatsgewalt entartet. Nicht mehr das Gesetz, 
sondern das Belieben des seinen Vorteil suchenden 
Herrschers gebietet; die legitime Regierung wird 
eine despotische, der Herrscher zum Tyrannen. 
Dann kommt zu jenen zwei Ungleichheiten noch 
eine dritte, die von Herrn und Sklaven. Wäh- 
rend die Staatsbürger vorher nach Reichtum, 
Stellung, Macht und persönlichem Verdienst nicht 
nur von den obrigkeitlichen Personen, sondern 
auch untereinander sehr verschieden waren, eint 
jetzt alle eine gleiche Sklaverei. 
Der gesetzlose Despot ist nur so lange Herr, als 
er die Macht hat. „Es ist offenbar gegen das 
Gesetz der Natur, daß ein Kind einem Greis be- 
fiehlt, daß ein Schwachkopf einen Weisen führt 
und daß eine Handvoll Leute im Überfluß schwimmt, 
während der hungernden Menge das Notwendige 
abgeht.“ Und darum ist „der Aufstand, der mit 
der Erdrosselung oder Entthronung eines Sultans 
endet, ein ebenso juridischer Akt, wie die Akte 
waren, durch welche er selbst am Abend vorher über 
Leben und Güter seiner Untertanen verfügte“". — 
Dumpf kündigt sich hier die bevorstehende Revo- 
lution an. Indem Rousseaus Discours sur Tori- 
gine de Tinégalite parmi les hommes das 
historisch gewordene Regiment, losgelöst von aller 
gottgesetzten Menschheitsentwicklung, rein kapita- 
listisch entstehen und wie naturnotwendig in De- 
spotie und verdammenswerte Tyrannis übergehen 
läßt, mündet das Werk in die Stimmung und die 
beredte Phrase des sozialen und politischen Um- 
sturzes aus. 
III. Der Schluß der Abhandlung über die 
Ungleichheit unter den Menschen hat schon in die 
Rousseausche Rechts= und Staatsphilo- 
sophie eingeführt. Rousseaus eigne Auffas- 
sungen darüber treten einigermaßen schon in dem 
Artikel „Economie politique“ hervor, 
  
Nousseau. 
  
728 
den er für den fünften Band der „Enzyklopädie“ 
schrieb (1755). Ausführlich entwickelt sind sie im 
Contrat social, der 1762 erschien, in Genf 
verbrannt wurde und Rousseau auch die Aus- 
weisung aus dem Kanton Bern eintrug. Außer- 
dem kommen in Betracht die „Briefe vom 
Berge“ (Tettres de la Montagne, 1764, eine 
Antwort auf die Lettres de la Campagne, in 
denen der Genfer Aristokrat J. R. Tronchin das 
Vorgehen Genfs gegen Rousseau in eindringlicher 
Weise rechtfertigte), das Fragment des „Ent- 
wurfs einer Verfassung für Korsika“ 
(1765) und die „Betrachtungen über die 
polnische Verfassung und ihre Re- 
form“ (1772). Im folgenden wird im wesent- 
lichen der Contrat social zugrunde gelegt. 
1. Freiheit und Gesetzeszwang. Ihre 
ganze Orientierung erhält die Rousseausche Staats- 
philosophie in folgenschwerer Einseitigkeit von der 
Frage aus, wie die von ihm als ursprünglich vor- 
ausgesetzte, weil in der Natur begründete Frei- 
heit des Menschen mit dem in der Kulturgemein- 
schaft unentbehrlichen Gesetzes zwang vereinigt 
werden könne (1 1). Was Rousseau untersucht, ist 
nicht die Frage, wie der Staat historisch entstanden 
ist — hat er darüber auch seine Meinungen, so 
ist ihm die Sache im Contrat social doch gleich- 
gültig —; vielmehr will er feststellen, wie der 
Staat beschaffen sein muß, damit er, dem der 
Gesetzeszwang unentbehrlich ist, doch nicht ein 
bloßer Zwangs= und Gewaltstaat, sondern ein 
Rechtsstaat sei. Diesen Charakter des Staats 
als Rechtsstaat aber sieht er in einseitigster Weise 
allein darin begründet und findet ihn allein da- 
durch gewährleistet, daß durch den Gesetzeszwang 
die ursprüngliche Freiheit nicht aufgehoben werde, 
daß vielmehr umgekehrt der Gesetzeszwang als ein 
Ausfluß der Freiheit erscheine. 
Bei der Beantwortung der so gestellten Frage 
bricht Nousseau völlig mit der positiven Begrün- 
dung des Rechts und der Herrschergewalt, sowohl 
mit der religiösen wie mit der historischen, um 
dafür einzig die Ableitung aus einem abstrakten 
Vernunftprinzip — aus dem den Gemeinwillen 
begründenden Staatsvertrag — einzusetzen. Nicht 
nur die direkte Herleitung der Herrschaftsgewalt 
aus der göttlichen Weltregierung im Sinn Bos- 
suets und der englischen Stuarts ist bei ihm aus- 
geschlossen, sondern auch die indirekte, wie Suarez 
und andere katholische Theologen sie gegeben 
hatten. Ebenso verwirft er die bei Thomas von 
Aquin und in der naturrechtlichen Schule des 
Grotius übliche Ableitung, nach der die Notwen- 
digkeit des Staats und der Herrschaftsgewalt aus 
dem aristotelischen Prinzip der Soziabilität sich 
ergibt, verbunden mit dem gleichfalls aristoteli- 
chen Satz, daß bei jeder Hinordnung der vielen 
zu einem Ziel Leitende und Geleitete notwendig 
seien. Daß ursprüngliche Gewalt, überhaupt äu- 
ßerer Zwang, im historischen Werden und Wachsen 
ein Recht herbeiführen könne, gibt er ebensowenig 
—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.