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kommen. Der Despotismus steht nach Rousseau
nicht am Anfang der Geschichte, sondern ist erst
Entartung. Rousseau selbst stellt sich — seine eigne,
im Contrat social entwickelte Theorie vorläufig
noch beiseite schiebend — hier noch auf den
Standpunkt des Herrschaftsvertrags, und zwar
etwa in der Form, wie die Monarchomachen ihn
vertraten, also eines Vertrags, der beiden Seiten
Rechte und Pflichten gibt, aber bereits schon dos
Volk als die eigentlichen Auftraggeber (commet-
tants) erscheinen läßt, die ebenso ihre Abhängig-
keit aufkündigen dürfen, wie die Magistrate auf
ihre Rechte Verzicht leisten können. Die Theorie
der ursprünglichen und bleibenden Souveränität
des Volks ist also — freilich in recht unorgani-
scher Form — bereits hier ausgesprochen.
Durch die Einführung einer Obrigkeit im
Staat ist zu der Ungleichheit von Armen und
Reichen die von Starken und Schwachen getreten.
Aber dabei bleibt es nicht. Die bloß auf den
Besitz und die durch diesen gegebene Macht auf-
gebaute, durch den Herrschaftsvertrag indes in
gesetzliche Form gebrachte und gesetzlich regierende
Staatsgewalt entartet. Nicht mehr das Gesetz,
sondern das Belieben des seinen Vorteil suchenden
Herrschers gebietet; die legitime Regierung wird
eine despotische, der Herrscher zum Tyrannen.
Dann kommt zu jenen zwei Ungleichheiten noch
eine dritte, die von Herrn und Sklaven. Wäh-
rend die Staatsbürger vorher nach Reichtum,
Stellung, Macht und persönlichem Verdienst nicht
nur von den obrigkeitlichen Personen, sondern
auch untereinander sehr verschieden waren, eint
jetzt alle eine gleiche Sklaverei.
Der gesetzlose Despot ist nur so lange Herr, als
er die Macht hat. „Es ist offenbar gegen das
Gesetz der Natur, daß ein Kind einem Greis be-
fiehlt, daß ein Schwachkopf einen Weisen führt
und daß eine Handvoll Leute im Überfluß schwimmt,
während der hungernden Menge das Notwendige
abgeht.“ Und darum ist „der Aufstand, der mit
der Erdrosselung oder Entthronung eines Sultans
endet, ein ebenso juridischer Akt, wie die Akte
waren, durch welche er selbst am Abend vorher über
Leben und Güter seiner Untertanen verfügte“". —
Dumpf kündigt sich hier die bevorstehende Revo-
lution an. Indem Rousseaus Discours sur Tori-
gine de Tinégalite parmi les hommes das
historisch gewordene Regiment, losgelöst von aller
gottgesetzten Menschheitsentwicklung, rein kapita-
listisch entstehen und wie naturnotwendig in De-
spotie und verdammenswerte Tyrannis übergehen
läßt, mündet das Werk in die Stimmung und die
beredte Phrase des sozialen und politischen Um-
sturzes aus.
III. Der Schluß der Abhandlung über die
Ungleichheit unter den Menschen hat schon in die
Rousseausche Rechts= und Staatsphilo-
sophie eingeführt. Rousseaus eigne Auffas-
sungen darüber treten einigermaßen schon in dem
Artikel „Economie politique“ hervor,
Nousseau.
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den er für den fünften Band der „Enzyklopädie“
schrieb (1755). Ausführlich entwickelt sind sie im
Contrat social, der 1762 erschien, in Genf
verbrannt wurde und Rousseau auch die Aus-
weisung aus dem Kanton Bern eintrug. Außer-
dem kommen in Betracht die „Briefe vom
Berge“ (Tettres de la Montagne, 1764, eine
Antwort auf die Lettres de la Campagne, in
denen der Genfer Aristokrat J. R. Tronchin das
Vorgehen Genfs gegen Rousseau in eindringlicher
Weise rechtfertigte), das Fragment des „Ent-
wurfs einer Verfassung für Korsika“
(1765) und die „Betrachtungen über die
polnische Verfassung und ihre Re-
form“ (1772). Im folgenden wird im wesent-
lichen der Contrat social zugrunde gelegt.
1. Freiheit und Gesetzeszwang. Ihre
ganze Orientierung erhält die Rousseausche Staats-
philosophie in folgenschwerer Einseitigkeit von der
Frage aus, wie die von ihm als ursprünglich vor-
ausgesetzte, weil in der Natur begründete Frei-
heit des Menschen mit dem in der Kulturgemein-
schaft unentbehrlichen Gesetzes zwang vereinigt
werden könne (1 1). Was Rousseau untersucht, ist
nicht die Frage, wie der Staat historisch entstanden
ist — hat er darüber auch seine Meinungen, so
ist ihm die Sache im Contrat social doch gleich-
gültig —; vielmehr will er feststellen, wie der
Staat beschaffen sein muß, damit er, dem der
Gesetzeszwang unentbehrlich ist, doch nicht ein
bloßer Zwangs= und Gewaltstaat, sondern ein
Rechtsstaat sei. Diesen Charakter des Staats
als Rechtsstaat aber sieht er in einseitigster Weise
allein darin begründet und findet ihn allein da-
durch gewährleistet, daß durch den Gesetzeszwang
die ursprüngliche Freiheit nicht aufgehoben werde,
daß vielmehr umgekehrt der Gesetzeszwang als ein
Ausfluß der Freiheit erscheine.
Bei der Beantwortung der so gestellten Frage
bricht Nousseau völlig mit der positiven Begrün-
dung des Rechts und der Herrschergewalt, sowohl
mit der religiösen wie mit der historischen, um
dafür einzig die Ableitung aus einem abstrakten
Vernunftprinzip — aus dem den Gemeinwillen
begründenden Staatsvertrag — einzusetzen. Nicht
nur die direkte Herleitung der Herrschaftsgewalt
aus der göttlichen Weltregierung im Sinn Bos-
suets und der englischen Stuarts ist bei ihm aus-
geschlossen, sondern auch die indirekte, wie Suarez
und andere katholische Theologen sie gegeben
hatten. Ebenso verwirft er die bei Thomas von
Aquin und in der naturrechtlichen Schule des
Grotius übliche Ableitung, nach der die Notwen-
digkeit des Staats und der Herrschaftsgewalt aus
dem aristotelischen Prinzip der Soziabilität sich
ergibt, verbunden mit dem gleichfalls aristoteli-
chen Satz, daß bei jeder Hinordnung der vielen
zu einem Ziel Leitende und Geleitete notwendig
seien. Daß ursprüngliche Gewalt, überhaupt äu-
ßerer Zwang, im historischen Werden und Wachsen
ein Recht herbeiführen könne, gibt er ebensowenig
—