Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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zu; vielmehr bezeichnet er gerade das als den 
Fehler des Grotius, daß dieser das Recht schon 
durch die Tatsache glaube begründen zu können 
(12). Es gibt kein Recht des Stärkeren. Auch 
daß ein Staat und eine Staatsordnung, indem 
sie leben und Leben spenden, zugleich ihr Existenz- 
recht begründen, erkennt Rousseau nicht an. Noch 
weniger bedeutet natürlich bei ihm die privat- 
rechtliche Begründung der Herrschaft aus dem 
dynastischen Gesichtspunkt. Sie kommt auch im 
Contrat nur in der seltsamen Form zur Sprache, 
die ihr Filmers „Patriarcha“ gab, als Ableitung 
von den Familienherrscherrechten Adams oder 
Noes, über die sich Rousseau nicht mit Unrecht 
lustig macht (I 2; III 6). Rousseaus eigne Be- 
gründung des Rechtsstaats ist durchaus antihisto- 
risch, rein abstrakt verstandesmäßig. Und dieses 
so, daß nicht nur die Wertbeurteilung der mit 
Rechtsansprüchen auftretenden Regierungs= und 
Gesetzesgewalt, nicht nur das Bestreben zu ihrer 
Fortbildung und Verbesserung, sondern ihre recht- 
liche Geltung selbst bei ihm davon abhängt, 
daß sie vor seiner abstrakten Formel sich bewährt 
und wenigstens ideell auf sie zurückgeführt werden 
kann. — Gerade in diesem prinzipiellen Anspruch 
liegt das Revolutionäre des Rousseauschen Prin- 
zips, mag Rousseau selbst auch noch so sehr be- 
streiten, daß die Abschüttlung einer nicht aus dem 
freien Staatsvertrag hervorgegangenen Gewalt 
überhaupt ein Rechtsbruch sei (I 1), und mag er 
als Politiker vor übereilten Umwälzungen auch 
noch so sehr warnen (III 18). Hindert das letztere 
uns freilich, Gierke (Althusius 91) und den vielen 
andern zuzustimmen, nach denen Rousseau das 
„Programm der permanenten Revolution“ auf- 
stellen soll, so darf anderseits aus dem ersteren nicht 
(wie Haymann im Grund tut) gefolgert werden, 
daß eine das positive Recht verletzende Staats- 
umwälzung keine Revolution sei, weil Rousseau 
sie nicht so genannt wissen will. 
Der erste jener zwei oben erwähnten Faktoren in 
der Rousseauschen Fassung des Staatsproblems, die 
Freiheit, ist nach Rousseau eine Forderung der 
menschlichen Natur, die sich aus dem Naturtrieb der 
Selbsterhaltung ergibt und darum naturrechtlich 
feststeht. Der Mensch kann deshalb — und es 
soll dieses in den bestehenden Staaten überall der 
Fall sein — wohl tatsächlich, aber nicht rechtlich 
seiner Freiheit beraubt werden. Er behält daher 
das Recht, sein Joch abzuschütteln. Dagegen ist 
der zweite jener Faktoren, die Gesellschafts- 
ordnung und der in ihr bestehende Gesetzes- 
zwang, nicht auch von Natur. Anderseits ist im 
Kulturzustand — und aus diesem gibt es keine 
Rückkehr mehr, da der Naturzustand für immer 
hinter uns liegt — eine mit Gesetzeszwang ver- 
sehene Gesellschaftsordnung zur Erhaltung der 
Menschheit unentbehrlich (I 6). Es gilt also, diese 
so einzurichten, daß dabei die naturrechtliche Frei- 
heit gewahrt bleibt. Locke und die ihm Folgenden 
hatten die Bedingung dafür in der Festlegung 
Rousseau. 
  
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einer Reihe von individuellen, schon vor dem 
Staat bestehenden Rechten gesucht, in welche die 
Staatsgewalt nicht einzugreifen hat, sondern die 
unabhängig von der staatlichen Ordnung als eine 
individuelle Freiheitssphäre verbleiben. Diese sollte 
gebildet werden insbesondere durch das nicht auf- 
hebbare Eigentumsrecht auf Person, Arbeit und 
Besitz (My house is my, castle), wozu mehr 
oder weniger auch die „Gewissensfreiheit“ trat. 
Obwohl auch Rousseau in seinen Staatsvertrag 
nur das eingehen läßt, was für den Gemeinwillen 
von Bedeutung ist (II 4) — die Lockeschen Kon- 
struktionen, insbesondere des Eigentumsrechts, sind 
ihm dabei fremd; ohne den Staat gibt es wohl 
eine possession, aber keine propriété (I 8) —, 
so liegt der Schwerpunkt bei ihm doch nicht in der 
sachlichen Begrenzung von Rechten, sondern in der 
eigenartigen Konstruktion der Staatspersönlichkeit. 
Diese muß sogestaltet werden, daß jeder nursich selbst 
gehorcht. Unterdrückung der Freiheit oder „Skla- 
verei“ — ein bei Rousseau sehr beliebtes Schlag- 
wort — ist es, wenn innerhalb des Staats 
der eine dem andern gegenüber eine gesetzgebende 
Gewalt hat. Dagegen erachtet er eine weitest 
gehende Zwangsgewalt des Staats einzelnen 
gegenüber für sehr wohl vereinbar mit der natur- 
rechtlichen Freiheit des Individuums, wenn nur 
die Staatspersönlichkeit von der Gesamtheit der 
Individuen, nicht von einem einzelnen oder einer 
Partei, gebildet wird und so jeder an dem Gesetzes- 
willen teilhat. Das soziale Prinzip der Gewalt 
der Gesamtheit über den einzelnen und das indi- 
vidualistische der Autonomie des Individuums 
sollen in seiner Konstruktion des Staats sich nicht 
ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen. 
Den praktischen Widerständen gegen diese theo- 
retische Konstruktion gegenüber versteigt er sich zu 
dem Paradoxon, daß ein widerstrebender einzelner 
gezwungen werden müsse frei zu sein (on le 
forcera d’etre libre: 1 7): ein Paradoxon, das 
als Selbstauflösung der Rousseauschen Lehre zu- 
gleich ihre schärfste Kritik enthält. 
2. Rechtsstaat und Staatsvertrag. 
Jene „freie Notwendigkeit“, wie wir sagen könnten, 
ist nicht im Gewaltstaat, sondern nur im Rechts- 
staat zu verwirklichen. Nur dann aber — das 
ist das Wesentlichste in Rousseaus Lehre — ist der 
Staat ein Rechtsstaat, wenn er seine Existenz durch 
einen Vertrag hat, welcher dieselben Personen, 
die dem Recht unterworfen sind, zugleich als Ge- 
setzgeber tätig sein läßt. Denn in jedem andern 
Fall würde das positive Zwangsrecht des Staats 
das Urrecht der Freiheit aufheben und darum nach 
den obersten Voraussetzungen der Rousseauschen 
Staats= und Rechtsphilosophie naturrechtlich un- 
gültig sein. ç “5 
Schon in der mittelalterlichen Publizistik be- 
gründet (ogl. dafür besonders Gierke im Genossen- 
schaftsrecht III 626 ff und im Althusius 76ff. sowie 
G. Jellinek, Das Recht des modernen Staats? 
1 194 ff), war die Lehre vom Staatsvertrag be- 
 
	        
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