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zu; vielmehr bezeichnet er gerade das als den
Fehler des Grotius, daß dieser das Recht schon
durch die Tatsache glaube begründen zu können
(12). Es gibt kein Recht des Stärkeren. Auch
daß ein Staat und eine Staatsordnung, indem
sie leben und Leben spenden, zugleich ihr Existenz-
recht begründen, erkennt Rousseau nicht an. Noch
weniger bedeutet natürlich bei ihm die privat-
rechtliche Begründung der Herrschaft aus dem
dynastischen Gesichtspunkt. Sie kommt auch im
Contrat nur in der seltsamen Form zur Sprache,
die ihr Filmers „Patriarcha“ gab, als Ableitung
von den Familienherrscherrechten Adams oder
Noes, über die sich Rousseau nicht mit Unrecht
lustig macht (I 2; III 6). Rousseaus eigne Be-
gründung des Rechtsstaats ist durchaus antihisto-
risch, rein abstrakt verstandesmäßig. Und dieses
so, daß nicht nur die Wertbeurteilung der mit
Rechtsansprüchen auftretenden Regierungs= und
Gesetzesgewalt, nicht nur das Bestreben zu ihrer
Fortbildung und Verbesserung, sondern ihre recht-
liche Geltung selbst bei ihm davon abhängt,
daß sie vor seiner abstrakten Formel sich bewährt
und wenigstens ideell auf sie zurückgeführt werden
kann. — Gerade in diesem prinzipiellen Anspruch
liegt das Revolutionäre des Rousseauschen Prin-
zips, mag Rousseau selbst auch noch so sehr be-
streiten, daß die Abschüttlung einer nicht aus dem
freien Staatsvertrag hervorgegangenen Gewalt
überhaupt ein Rechtsbruch sei (I 1), und mag er
als Politiker vor übereilten Umwälzungen auch
noch so sehr warnen (III 18). Hindert das letztere
uns freilich, Gierke (Althusius 91) und den vielen
andern zuzustimmen, nach denen Rousseau das
„Programm der permanenten Revolution“ auf-
stellen soll, so darf anderseits aus dem ersteren nicht
(wie Haymann im Grund tut) gefolgert werden,
daß eine das positive Recht verletzende Staats-
umwälzung keine Revolution sei, weil Rousseau
sie nicht so genannt wissen will.
Der erste jener zwei oben erwähnten Faktoren in
der Rousseauschen Fassung des Staatsproblems, die
Freiheit, ist nach Rousseau eine Forderung der
menschlichen Natur, die sich aus dem Naturtrieb der
Selbsterhaltung ergibt und darum naturrechtlich
feststeht. Der Mensch kann deshalb — und es
soll dieses in den bestehenden Staaten überall der
Fall sein — wohl tatsächlich, aber nicht rechtlich
seiner Freiheit beraubt werden. Er behält daher
das Recht, sein Joch abzuschütteln. Dagegen ist
der zweite jener Faktoren, die Gesellschafts-
ordnung und der in ihr bestehende Gesetzes-
zwang, nicht auch von Natur. Anderseits ist im
Kulturzustand — und aus diesem gibt es keine
Rückkehr mehr, da der Naturzustand für immer
hinter uns liegt — eine mit Gesetzeszwang ver-
sehene Gesellschaftsordnung zur Erhaltung der
Menschheit unentbehrlich (I 6). Es gilt also, diese
so einzurichten, daß dabei die naturrechtliche Frei-
heit gewahrt bleibt. Locke und die ihm Folgenden
hatten die Bedingung dafür in der Festlegung
Rousseau.
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einer Reihe von individuellen, schon vor dem
Staat bestehenden Rechten gesucht, in welche die
Staatsgewalt nicht einzugreifen hat, sondern die
unabhängig von der staatlichen Ordnung als eine
individuelle Freiheitssphäre verbleiben. Diese sollte
gebildet werden insbesondere durch das nicht auf-
hebbare Eigentumsrecht auf Person, Arbeit und
Besitz (My house is my, castle), wozu mehr
oder weniger auch die „Gewissensfreiheit“ trat.
Obwohl auch Rousseau in seinen Staatsvertrag
nur das eingehen läßt, was für den Gemeinwillen
von Bedeutung ist (II 4) — die Lockeschen Kon-
struktionen, insbesondere des Eigentumsrechts, sind
ihm dabei fremd; ohne den Staat gibt es wohl
eine possession, aber keine propriété (I 8) —,
so liegt der Schwerpunkt bei ihm doch nicht in der
sachlichen Begrenzung von Rechten, sondern in der
eigenartigen Konstruktion der Staatspersönlichkeit.
Diese muß sogestaltet werden, daß jeder nursich selbst
gehorcht. Unterdrückung der Freiheit oder „Skla-
verei“ — ein bei Rousseau sehr beliebtes Schlag-
wort — ist es, wenn innerhalb des Staats
der eine dem andern gegenüber eine gesetzgebende
Gewalt hat. Dagegen erachtet er eine weitest
gehende Zwangsgewalt des Staats einzelnen
gegenüber für sehr wohl vereinbar mit der natur-
rechtlichen Freiheit des Individuums, wenn nur
die Staatspersönlichkeit von der Gesamtheit der
Individuen, nicht von einem einzelnen oder einer
Partei, gebildet wird und so jeder an dem Gesetzes-
willen teilhat. Das soziale Prinzip der Gewalt
der Gesamtheit über den einzelnen und das indi-
vidualistische der Autonomie des Individuums
sollen in seiner Konstruktion des Staats sich nicht
ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen.
Den praktischen Widerständen gegen diese theo-
retische Konstruktion gegenüber versteigt er sich zu
dem Paradoxon, daß ein widerstrebender einzelner
gezwungen werden müsse frei zu sein (on le
forcera d’etre libre: 1 7): ein Paradoxon, das
als Selbstauflösung der Rousseauschen Lehre zu-
gleich ihre schärfste Kritik enthält.
2. Rechtsstaat und Staatsvertrag.
Jene „freie Notwendigkeit“, wie wir sagen könnten,
ist nicht im Gewaltstaat, sondern nur im Rechts-
staat zu verwirklichen. Nur dann aber — das
ist das Wesentlichste in Rousseaus Lehre — ist der
Staat ein Rechtsstaat, wenn er seine Existenz durch
einen Vertrag hat, welcher dieselben Personen,
die dem Recht unterworfen sind, zugleich als Ge-
setzgeber tätig sein läßt. Denn in jedem andern
Fall würde das positive Zwangsrecht des Staats
das Urrecht der Freiheit aufheben und darum nach
den obersten Voraussetzungen der Rousseauschen
Staats= und Rechtsphilosophie naturrechtlich un-
gültig sein. ç “5
Schon in der mittelalterlichen Publizistik be-
gründet (ogl. dafür besonders Gierke im Genossen-
schaftsrecht III 626 ff und im Althusius 76ff. sowie
G. Jellinek, Das Recht des modernen Staats?
1 194 ff), war die Lehre vom Staatsvertrag be-