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sonders von Grotius und seinen Nachfolgern aus-
gebildet. In der üblichen Form, welche sie in der
Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrh. ge-
wonnen hat, wird ein doppelter Vertrag unter-
schieden, der Einigungsvertrag, durch den aus der
bloßen Menge ein Volk entsteht, und der Herr-
schaftsvertrag, durch welchen das Volk die Re-
gierung bestimmt und den Regierenden die recht-
liche Gewalt überträgt. Der letztere Vertrag wurde
auch wohl, wie bei Pufendorf, in zwei zerlegt:
einen Verfassungsbeschluß und den eigentlichen
Herrschafts= oder Unterwerfungsvertrag. Dabei
ist zu bemerken, daß diese Vertragstheorie, wenig-
stens zumeist, den Vertrag als eine Tatsache hin-
stellt, nicht, wie später Fichte und Kant (Bd II,
Sp. 171, 1605), eine bloß ideelle juristische Kon-
struktion bieten will. Bei Rousseau bleibt die Sache
unklar. Doch sagt er (I 6) — wie auch andere
Naturrechtslehrer —. daß der Vertrag nicht aus-
drücklich ausgesprochen zu werden brauche, sondern
auch stillschweigend anerkannt werden könne. —
Gegenüber dieser damals herrschenden Theorie
haite Hobbes, obwohl für die juristische Konstruk-
tion auf dem Boden der Vertragstheorie stehend,
eine Vereinfachung vorgenommen, indem er den
Einigungsvertrag, durch den das Volk entsteht,
verwarf und nur den Herrschaftsvertrag stehen
ließ. Jeder einzelne kontrahiert mit jedem ein-
zelnen die Ubertragung eines Teils seiner Rechte
auf die mit der Staatspersönlichkeit zusammen-
fallende Herrscherpersönlichkeit. Ein geeintes Volk
als vertragsschließende Partei und neben dem
Herrscher fortdauernde partielle Staatspersönlich-
keit ist nicht vorhanden. Daher gibt es seitens des
Herrschers keinen Vertragsbruch, und das Volk
darf im Fall eines solchen nicht, wie die Mon-
archomachen wollten, aktiven Widerstand entgegen-
setzen. Ganz anders, in vielem umgekehrt, Rous-
seau im Contrat social. Ein Herrschafts= oder
Unterwerfungsvertrag ist nach ihm rechtlich un-
möglich, da er das Aufgeben der naturrechtlich
geforderten persönlichen Freiheit gegenüber einer
fremden Persönlichkeit einschließen würde (III 16);
der „Fürst“ ist nur Beauftragter des Volks (wie
Rousseau schon im Discours sur l’inégalité ge-
lehrt hatte, mochte er dort auch vorläufig noch der
Theorie des Herrschaftsvertrags sich anpassen) und
hat ihm gegenüber keine vertraglichen Rechte; nur
der Einigungsvertrag (natürlich auch der Ver-
fassungsbeschluß) bleiben bei ihm stehen. Während
bei Hobbes von den zwei Faktoren der die Staats-
persönlichkeit spaltenden Naturrechtslehre das Volk
sällt, fällt bei Rousseau der Herrscher. Nur zwischen
den einzelnen (wie bei Hobbes) wird bei ihm der
Vertrag geschlossen, durch den aber nicht, wie bei
Hobbes, einem Herrscher die Gewalt übertragen
wird, sondern durch den das Volk als geordnete
Gemeinschaft entsteht. Und dieses so zur Gesell-
schaft organisierte Volk ist bei Rousseau schon der
Staat. Der Staat ist nicht, wie bei den Naturrechts-
lehrern des 17. und 18. Jahrh., ein Verband von
Rousseau.
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Herrschenden und Gehorchenden, der zu seiner Voll-
endung erst eines besondern Herrschaftsvertrags
bedarf. Der Gesellschaftsvertrag (contrat
oder pacte social), durch welchen das Volk
entsteht (lacte par lequel le peuple est un
peuple: 1 5), ist darum bei Rousseau mit dem
Staatssvertrag identisch. Durch den Gesell-
schaftsvertrag entsteht der Staat als moralische
Persönlichkeit (corps moral, moi commun: 1 6,
personne morale: II 4), deren Träger der Ge-
meinwille (volonté générale) ist.
Der Inhalt des Sozialvertrags wird teleologisch
durch die Aufgabe bestimmt, die Rousseau ihm
gestellt hatte. Aus dem einseitigen Anfang folgt
das Weitere mit ziemlicher Konsequenz; die meisten
der Rousseau gewöhnlich vorgeworfenen Selbst-
widersprüche beruhen auf ungenügender Kenntnis
seiner Lehre. Es gilt eine — Person und Güter
eines jeden sichernde — Form der Vereinigung zu
finden, bei der jeder nur sich selbst gehorcht und
daher so frei bleibt wie vorher (1 6). Diese Auf-
gabe wird dadurch erfüllt, daß alle ihre Person
und ihre Kraft unter die Leitung eines Gemein-
willens begeben, dessen Glieder die Einzelwillen
der Vertragschließenden selbst sind. (Daß Rousf-
seau hierbei (wie bei der Bildung des Gemein-
willens] stets nur von den Männern spricht und
die doch gleichfalls zu den Bürgern gehörenden
und den Gesetzen unterworfenen Frauen ganz un-
berücksichtigt läßt, ist freilich von seinem Rechts-
standpunkt aus eine Inkonsequenz.) — Die so
entstehende moralische Körperschaft ist der Staat
(république odber corps politique), der, als aktiv
betrachtet, „Souverän“ heißt (während Rousseau
das Wort état für den als passiv betrachteten
Staat vorbehalten will). Die vereinigten Indi-
viduen heißen, als Gesamtheit betrachtet, „Volk“,
als Teilnehmer an der souveränen Staatsgewalt
„Bürger“, als den Staatsgesetzen unterworfen
„Untertanen“". So ist der Staatsvertrag eine
gegenseitige Verpflichtung zwischen Gemein-
wesen (public) und einzelnen (1 7), aber so, daß
die das Gemeinwesen zusammensetzenden Glieder
und dessen Untergebene in Wirklichkeit dieselben
Personen sind. Jedes Individuum kontrahiert
mit sich selbst, und zwar in doppelter Weise: als
Glied des souveränen Staats mit den einzelnen
Untertanen, zu denen es selbst gehört, und als
Untertan mit dem souveränen Staat, dessen Glied
es selbst ist. Sonach gehorcht in dem auf den
Rousseauschen Contrat social aufgebauten Rechts-
staat in Wahrheit jeder nur sich selbst (II 4).
Statt der natürlichen, ungebundenen Freiheit hat
er die bürgerliche Freiheit eingetauscht (1 8), die
nicht mehr Freiheit vo m Staat, sondern Freiheit
im Staat ist und darin besteht, daß man nur
solchen Gesetzen zu gehorchen braucht, welche man
sich selbst gesetzt hat und durch welche als durch
allgemeine Reglungen man vor dem Widerspruch
mit sich selbst bewahrt wird. Rousseau hat diesen
Tausch im Contrat social, unter Zurückstellung