Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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sonders von Grotius und seinen Nachfolgern aus- 
gebildet. In der üblichen Form, welche sie in der 
Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrh. ge- 
wonnen hat, wird ein doppelter Vertrag unter- 
schieden, der Einigungsvertrag, durch den aus der 
bloßen Menge ein Volk entsteht, und der Herr- 
schaftsvertrag, durch welchen das Volk die Re- 
gierung bestimmt und den Regierenden die recht- 
liche Gewalt überträgt. Der letztere Vertrag wurde 
auch wohl, wie bei Pufendorf, in zwei zerlegt: 
einen Verfassungsbeschluß und den eigentlichen 
Herrschafts= oder Unterwerfungsvertrag. Dabei 
ist zu bemerken, daß diese Vertragstheorie, wenig- 
stens zumeist, den Vertrag als eine Tatsache hin- 
stellt, nicht, wie später Fichte und Kant (Bd II, 
Sp. 171, 1605), eine bloß ideelle juristische Kon- 
struktion bieten will. Bei Rousseau bleibt die Sache 
unklar. Doch sagt er (I 6) — wie auch andere 
Naturrechtslehrer —. daß der Vertrag nicht aus- 
drücklich ausgesprochen zu werden brauche, sondern 
auch stillschweigend anerkannt werden könne. — 
Gegenüber dieser damals herrschenden Theorie 
haite Hobbes, obwohl für die juristische Konstruk- 
tion auf dem Boden der Vertragstheorie stehend, 
eine Vereinfachung vorgenommen, indem er den 
Einigungsvertrag, durch den das Volk entsteht, 
verwarf und nur den Herrschaftsvertrag stehen 
ließ. Jeder einzelne kontrahiert mit jedem ein- 
zelnen die Ubertragung eines Teils seiner Rechte 
auf die mit der Staatspersönlichkeit zusammen- 
fallende Herrscherpersönlichkeit. Ein geeintes Volk 
als vertragsschließende Partei und neben dem 
Herrscher fortdauernde partielle Staatspersönlich- 
keit ist nicht vorhanden. Daher gibt es seitens des 
Herrschers keinen Vertragsbruch, und das Volk 
darf im Fall eines solchen nicht, wie die Mon- 
archomachen wollten, aktiven Widerstand entgegen- 
setzen. Ganz anders, in vielem umgekehrt, Rous- 
seau im Contrat social. Ein Herrschafts= oder 
Unterwerfungsvertrag ist nach ihm rechtlich un- 
möglich, da er das Aufgeben der naturrechtlich 
geforderten persönlichen Freiheit gegenüber einer 
fremden Persönlichkeit einschließen würde (III 16); 
der „Fürst“ ist nur Beauftragter des Volks (wie 
Rousseau schon im Discours sur l’inégalité ge- 
lehrt hatte, mochte er dort auch vorläufig noch der 
Theorie des Herrschaftsvertrags sich anpassen) und 
hat ihm gegenüber keine vertraglichen Rechte; nur 
der Einigungsvertrag (natürlich auch der Ver- 
fassungsbeschluß) bleiben bei ihm stehen. Während 
bei Hobbes von den zwei Faktoren der die Staats- 
persönlichkeit spaltenden Naturrechtslehre das Volk 
sällt, fällt bei Rousseau der Herrscher. Nur zwischen 
den einzelnen (wie bei Hobbes) wird bei ihm der 
Vertrag geschlossen, durch den aber nicht, wie bei 
Hobbes, einem Herrscher die Gewalt übertragen 
wird, sondern durch den das Volk als geordnete 
Gemeinschaft entsteht. Und dieses so zur Gesell- 
schaft organisierte Volk ist bei Rousseau schon der 
Staat. Der Staat ist nicht, wie bei den Naturrechts- 
lehrern des 17. und 18. Jahrh., ein Verband von 
Rousseau. 
  
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Herrschenden und Gehorchenden, der zu seiner Voll- 
endung erst eines besondern Herrschaftsvertrags 
bedarf. Der Gesellschaftsvertrag (contrat 
oder pacte social), durch welchen das Volk 
entsteht (lacte par lequel le peuple est un 
peuple: 1 5), ist darum bei Rousseau mit dem 
Staatssvertrag identisch. Durch den Gesell- 
schaftsvertrag entsteht der Staat als moralische 
Persönlichkeit (corps moral, moi commun: 1 6, 
personne morale: II 4), deren Träger der Ge- 
meinwille (volonté générale) ist. 
Der Inhalt des Sozialvertrags wird teleologisch 
durch die Aufgabe bestimmt, die Rousseau ihm 
gestellt hatte. Aus dem einseitigen Anfang folgt 
das Weitere mit ziemlicher Konsequenz; die meisten 
der Rousseau gewöhnlich vorgeworfenen Selbst- 
widersprüche beruhen auf ungenügender Kenntnis 
seiner Lehre. Es gilt eine — Person und Güter 
eines jeden sichernde — Form der Vereinigung zu 
finden, bei der jeder nur sich selbst gehorcht und 
daher so frei bleibt wie vorher (1 6). Diese Auf- 
gabe wird dadurch erfüllt, daß alle ihre Person 
und ihre Kraft unter die Leitung eines Gemein- 
willens begeben, dessen Glieder die Einzelwillen 
der Vertragschließenden selbst sind. (Daß Rousf- 
seau hierbei (wie bei der Bildung des Gemein- 
willens] stets nur von den Männern spricht und 
die doch gleichfalls zu den Bürgern gehörenden 
und den Gesetzen unterworfenen Frauen ganz un- 
berücksichtigt läßt, ist freilich von seinem Rechts- 
standpunkt aus eine Inkonsequenz.) — Die so 
entstehende moralische Körperschaft ist der Staat 
(république odber corps politique), der, als aktiv 
betrachtet, „Souverän“ heißt (während Rousseau 
das Wort état für den als passiv betrachteten 
Staat vorbehalten will). Die vereinigten Indi- 
viduen heißen, als Gesamtheit betrachtet, „Volk“, 
als Teilnehmer an der souveränen Staatsgewalt 
„Bürger“, als den Staatsgesetzen unterworfen 
„Untertanen“". So ist der Staatsvertrag eine 
gegenseitige Verpflichtung zwischen Gemein- 
wesen (public) und einzelnen (1 7), aber so, daß 
die das Gemeinwesen zusammensetzenden Glieder 
und dessen Untergebene in Wirklichkeit dieselben 
Personen sind. Jedes Individuum kontrahiert 
mit sich selbst, und zwar in doppelter Weise: als 
Glied des souveränen Staats mit den einzelnen 
Untertanen, zu denen es selbst gehört, und als 
Untertan mit dem souveränen Staat, dessen Glied 
es selbst ist. Sonach gehorcht in dem auf den 
Rousseauschen Contrat social aufgebauten Rechts- 
staat in Wahrheit jeder nur sich selbst (II 4). 
Statt der natürlichen, ungebundenen Freiheit hat 
er die bürgerliche Freiheit eingetauscht (1 8), die 
nicht mehr Freiheit vo m Staat, sondern Freiheit 
im Staat ist und darin besteht, daß man nur 
solchen Gesetzen zu gehorchen braucht, welche man 
sich selbst gesetzt hat und durch welche als durch 
allgemeine Reglungen man vor dem Widerspruch 
mit sich selbst bewahrt wird. Rousseau hat diesen 
Tausch im Contrat social, unter Zurückstellung
	        
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