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hatte, das Christentum an. Den Metropoliten
für Rußland (in Kijew) ernannte der Patriarch
von Konstantinopel. Rußland bekam von Byzanz
seine Kultur und mit der Kirche zugleich ein wert-
volles Band nationaler Einheit. Auch blieben ihm,
da die Kirche wie in Byzanz dem Staat unter-
geordnet wurde, die Kämpfe zwischen beiden
Mächten erspart. Anderseits wurde aber Rußland
auch in den Stillstand und Niedergang der by-
zantinischen Kultur hineingezogen und schloß sich
vom Westen und dessen höherer Kultur ab.
Rechtlich bestand im Hause Rurik das Prinzip
der Reichsteilung. Bisher hatten indessen die
Großfürsten ihren Brüdern und Verwandten nur
kleinere Gebiete überlassen und führten auch über
diese die Oberherrlichkeit, so daß die Einheit und
Macht des Reichs nicht ernstlich gefährdet wurde.
Jaroflaw I. (1016/54) teilte aber das Reich
ziemlich gleichmäßig unter seine fünf Söhne. Der
jeweilige Großfürst von Kijew sollte allerdings
eine gewisse Oberherrschaft über die andern führen.
Infolge der fortgesetzten Teilungen wurde die
Zahl der Fürstentümer immer größer. Im Jahr
1170 belief sich dieselbe auf 72. Überdies lebten
die Teilfürsten in fortwährendem Hader unter sich
und mit dem Großfürsten und riefen Polen,
Deutsche, Litauer, Ungarn und Polowzen gegen-
einander zu Hilfe. Trotzdem machte die Kultur
auf einzelnen Gebieten nicht unerhebliche Fort-
schritte. Viele Städte waren entstanden, ja Kijew
und Nowgorod gehörten zu den reichsten und
blühendsten Städten Europas. Aus dem Kijew-
schen Höhlenkloster, der hervorragendsten Pflanz-
stätte der Bildung in Rußland, gingen begeisterte
Männer hervor, die das Christentum befestigten
und weiter ausbreiteten. Die bedeutendsten Für-
stentümer waren neben Kijew Tschernigow. Pe-
rejaslaw, Smolensk, Susdal-Wladimir, Polotzk,
Minsk, Twer, Halicz, und in späterer Zeit Mos-
kau, von wo aus die Wiedervereinigung Rußlands
zu einem Reich und (im 15. Jahrh.) die endliche
Besiegung der Tataren ausging. Die Großstadt
Nowgorod gehörte zum Großfürstentum Kijew, ge-
noß aber große Rechte und Freiheiten. Vor allem
war sie in der Verwaltung der innern Angelegen-
heiten frei. Ein vom Großfürsten ernannter Statt-
halter hatte dessen Rechte in Nowgorod zu wahren.
Jaroslaw befreite die Nowgoroder sogar von dem
Tribut an den Großfürsten. Seither bildete sich
in Nowgorod eine nahezu republikanische Ver-
fassung aus. Auch in andern größeren Städten
(Pikow, Wjatka) bildete sich neben der fürstlichen
eine oligarchische Gewalt. Kijew trat im 12. Jahrh.
neben Wladimir in den Hintergrund; von hier
aus wurde 1221 das Land der Mordwinen er-
obert und Nischnij Nowgorod gegründet.
Durch innere Streitigkeiten geschwächt, fiel
Rußland im 13. Jahrh. den Tataren anheim.
1223 schlug Dschingis-Chan die südrussischen
Fürsten an der Kalka, einem kleinen, ins Asowsche
Meer mündenden Flüßchen. 1237/40 verheerte
Rußland.
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sein Enkel Batu das Land und mordete, was ihm
in die Hände fiel. Moskau, das heldenmütig ver-
teidigte Wladimir, das heilige Kijew und viele
andere Städte wurden eingeäschert, nur Nowgorod
hielt sich. Nach einem Verwüstungszug durch Polen
und Ungarn gründete Batu als Vassall des Groß-
chans das Reich der Goldenen Horde von Kiptschak,
das sich vom Ural bis zum Dujepr erstreckte, mit
der Residenz Sarai am östlichen Ufer der untern
Wolga. Die russischen Fürsten mußten ihm und
zuweilen auch dem Großchan in Karakorum hul-
digen. Der Chan setzte die Großfürsten und die
Teilfürsten ein und ab und forderte nicht nur von
den Fürsten Tribut, sondern auch vom Volk, so-
weit es nicht zu Sklaven gemacht wurde, Steuern.
Zu diesem Zweck wurde eine Zählung der Ein-
wohner aller Fürstentümer vorgenommen, und ta-
tarische Beamte trieben die Steuer mit unmensch-
licher Grausamkeit ein. Zwei und ein halbes Jahr-
hundert hindurch trug das russische Volk das schwere
Joch der Tataren, das ihm tiefe physische und
moralische Wunden hinterließ. Zudem dauerten
die innern Streitigkeiten unter den Fürsten fort.
So war z. B. die ganze Regierung des Groß-
fürsten Dmitri; Alexandrowitsch (1276/94) von
den grausamsten Bürgerkriegen ausgefüllt, in wel-
chen die feindlichen Parteien sogar die Tataren
zu Hilfe riefen. Im Westen gründete Gedimin
das selbständige Reich Litauen, das sich bald über
das ganze heutige Weißrußland erstreckte. Auch
das Fürstentum Halicz löste sich von dem Ver-
band mit Rußland und fiel zum Teil an Polen,
zum Teil an Litauen. — Unter Daniel (1263
bis 1303), dem Bruder des Großfürsten Dmitrij,
gelangte das Fürstentum Moskau zu immer
größerer Macht. Daniel und seine Nachfolger
wußten ihr Gebiet durch Schmeicheleien gegen die
Großchane und durch immer weiter gehende Ver-
einigung anderer Teilfürstentümer mit Moskau
von Generation zu Generation zu vermehren. Sein
Sohn Iwan wurde vom Chan Usbek zum Groß-
fürsten ernannt, und seitdem (1328) galt Moskau
als Hauptstadt. So führten die Chane selbst die
allmähliche Wiedervereinigung der Russen zu einem
einheitlichen Reich herbei, während die Goldene
Horde durch Zerwürfnisse mit dem Großchan und
durch innere Streitigkeiten (Ablösung des kasan-
schen und krimschen Chanats) an Macht verlor.
Der Grofßfürst Dmitrij Iwanowitsch Donskoi
(1362/89) schlug die Tataren 1380 am Don;
es war der erste glückliche Vorstoß der Russen
gegen ihre Bedrücker. Ebenso wichtig für die Eini-
gung des Reichs war die Einführung der Primo-
genitur durch Dmitrij. Schon Wasilij I. (1389
bis 1425) konnte es wagen, ihnen den Tribut zu
verweigern. — Litauen hingegen wurde 1386 durch
die Wahl seines Fürsten Jagello zum König von
Polen mit diesem Reich vereinigt, erhielt zwar
später eigne Fürsten, die jedoch polnische Lehns-
träger waren, blieb also für Rußland bis auf
Katharina II. verloren. Der litauische Fürst