Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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hafteten dagegen solidarisch für die Steuern. Die 
neue Gerichtsordnung trennte Justiz und Verwal- 
tung, führte einen unabhängigen Richterstand ein, 
Gemeindegerichte für die Bauern, Friedensgerichte 
(Amtsgerichte) mit gewählten Richtern, Kreisge- 
richte (mit Geschworenen für Strafsachen), Appel- 
lationsgerichte und einen Kassationshof. Frucht- 
bare, in der Folge jedoch nicht ausgebaute, sondern 
beschränkte Neuerungen waren die Einführung von 
gewählten Semstwoversammlungen (Kreis= und 
Gouvernementslandtagen, 13. Jan. 1864) und die 
Städteordnung (1870, nach preußischem Vorbild). 
Die Reformen hatten naturgemäß viele Gegner, 
und der Zar besaß nicht die eiserne Konsequenz 
seines Vaters, sondern war eine leicht bestimmbare 
Natur. Eine höchst unglückliche Wirkung übte der 
polnische Aufstand 1863 aus, nicht nur für Polen 
selbst, das jetzt durch Murawiew und Berg von 
neuem geknechtet wurde, sondern für das ganze 
Reich, da jetzt die Reaktion, die durch die Schule 
Katkows und Aksakows vertretene Dreiheit Auto- 
kratie, Orthodoxie und Panslawismus an Einfluß 
gewann. Die Ausschreitungen der radikalen, viel- 
fach im Ausland gebildeten und revolutionär ge- 
wordenen Jugend hatten Gegenmaßregeln zur 
Folge, die selbst wieder oft über das Ziel hinaus- 
schossen. Die Geheimbünde führten einen zähen 
und entschlossenen Krieg gegen die Behörden. 
1879 wurde der Zar förmlich zum Tod verurteilt 
und nach mehreren mißlungenen Attentaten, als 
er eben eine Art Parlament schaffen wollte, am 
13. März 1881 ermordet. — Unter Alexander II. 
wurde 1864 die Unterwerfung des Kaukasus voll- 
endet und 1865/84 Turkestan erobert. Durch die 
Verträge mit China von 1858 und 1860 erhielt 
Rußland das Gebiet des unteren Amur bis zum 
Flüßchen Ussuri und längs der Meeresküste bis 
Korea, und 1875 gewann es die Insel Sachalin 
von Japan. Dagegen trat Alexander seine Be- 
sitzungen in Nordamerika gegen sieben Millionen 
Dollars an die Vereinigten Staaten ab (1867). 
Auf der Londoner Konferenz, 13. März 1871, 
erreichte Rußland die Aufhebung des Artikels des 
Pariser Friedens, der ihm das Halten einer Flotte 
auf dem Schwarzen Meer verbot; die Dardanellen 
blieben jedoch geschlossen. Durch die panslawistische 
Agitation wurde Rußland 1877 zum Krieg mit 
der Türkei getrieben; seine Ergebnisse (Frieden 
von S. Stefano) wurden jedoch auf Verlangen 
Englands und Osterreichs, die sich der Auflösung 
der Türkei widersetzten, auf dem Berliner Kongreß 
(13. Juli 1878) wesentlich zu ungunsten Ruß- 
lands beschränkt. Es mußte auf die Ausdehnung 
Bulgariens zum Agäischen Meer verzichten und 
erhielt nur den 1856 abgetretenen Teil Bessara- 
biens, Kars, Ardahan und Batum. Seitdem ist 
die öffentliche Meinung Rußlands, der auch Alex- 
ander III. entgegenkam, mehr und mehr deutsch- 
feindlich geworden. 
Alexander III. (1881/94) kehrte wieder zu den 
Maximen seines Großvaters zurück. Die freisin- 
Rußland. 
  
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nigen Reformen seines Vaters wurden, soweit es 
anging, abgeschafft und die absolute kaiserliche 
Machtvollkommenheit auf allen Gebieten wieder- 
hergestellt. Vom Parlament war keine Rede mehr. 
Die extrem national-russische Partei (Katkow, 
Pobjedonoszew) übte maßgebenden Einfluß auf 
den Kaiser. Rücksichtsloser als sein Vater ging er 
gegen Polen vor. Die Rechte der katholischen und 
der lutherischen Kirche wurden für erloschen erklärt, 
die Privilegien der Ostseeprovinzen nicht mehr 
bestätigt. In beiden Ländern wurde unter grau- 
samer Verfolgung der Widerstrebenden an der 
zwangsweisen Ausbreitung der russischen Kirche 
und Sprache gearbeitet. Selbst Privatschulen mit 
fremder Sprache wurden verboten. Die unter 
Alexander II. milder gehandhabten Gesetze über 
Kinder aus Mischehen und über Abfall vom ortho- 
doxen Glauben und Beihilfe dazu wurden wieder 
streng durchgeführt. Die Juden wurden streng in 
ihre Ansiedlungsrayons verwiesen oder ausgewiesen. 
Indessen erhob sich der Geheimbund der Nihilisten 
zu einer furchtbaren Macht, welche das Leben des 
Zaren durch wiederholte Attentate bedrohte und 
der viele seiner Beamten zum Opfer fielen. Alex- 
ander mußte sich, um sein Leben zu sichern, auf 
seinen Reisen und selbst in seinen Palästen mit 
starker militärischer Bedeckung umgeben. Die 
nihilistischen Umtriebe hatten ein neues Universi- 
tätsstatut zur Folge, welches die Söhne Unbemit- 
telter vom Studium ausschloß und die Hochschulen 
unter ein strenges Polizeisystem stellte. In der 
äußern Politik trat seit dem Berliner Kongreß 
eine Annäherung zwischen Rußland und Frank- 
reich ein, doch ließ sich Alexander III. trotz Frank- 
reichs Werben zu keinem Bündnis herbei. Das 
Vordringen an die Grenze von Afghanistan hatte 
eine Spannung zwischen Rußland und England 
zur Folge. Durch die transkaspische Bahn wurden 
die fruchtbaren Gebiete Turkestans dem Reich 
näher gerückt, wie denn überhaupt die Erweite- 
rung des russischen Eisenbahnnetzes nebst der Ver- 
besserung und Vermehrung des Heeres eine Haupt- 
sorge des Kaisers bildete. Auch die transsibirische 
Bahn wurde 1889 begonnen. 
Das Bündnis mit Frankreich kam unter Ni- 
kolaus II. 1897 zustande, hat jedoch für Rußland 
mehr finanzielle Bedeutung. Eine Gefährdung 
des Friedens trat dadurch nicht ein, vielmehr schien 
Rußland an die Spitze der Friedensbewegung 
treten zu wollen (1898 Rundschreiben des Mini- 
sters des Auswärtigen Murawiew über eine all- 
gemeine Abrüstung, Anregung der ersten Haager 
Konferenz) und einigte sich mit Osterreich-Ungarn 
über eine gemeinsame Balkanpolitik (1897 und 
1903 Abkommen über die mazedonische Frage). 
Der eigentliche Grund dieser friedlichen Politik 
in Europa war das erhöhte Interesse, das Ruß- 
land dem mittleren und fernen Osten zuwandte, 
wo es am Persischen Meerbusen und am Stillen 
Ozean eine bessere Verbindung mit der See suchte. 
Persien wurde durch eine Anleihe (1902), Grün-
	        
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