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gekommene Budget in Kraft und den Ministern
werden monatlich Kredite bis zu 1½/2 des Gesamt-
haushalts bewilligt. Anleihen können mit Aus-
nahme von Kriegsanleihen und den Krediten für
die provisorischen Zwölftel nur mit Zustimmung
der Volksvertretung aufgenommen werden (wor-
über sich die Regierung wiederholt hinweggesetzt
hat). Wenn es auch der Volksvertretung zusteht,
die Verfassung und den bestehenden Rechtszustand
und die staatsbürgerlichen Rechte des einzelnen
gegen Übergriffe der Verwaltungsbehörde zu ver-
teidigen, so darf sie sich doch nicht in die Tätig-
keit der Regierungsgewalt einmischen; in den
Kammern dürfen keine Deputationen erscheinen
und sie dürfen keine mündlichen oder schriftlichen
Erklärungen entgegennehmen. Jede Kammer ordnet
ihren Geschäftsgang und ihre Disziplinargewalt
selber. Der Vorsitzende des Reichsrats und sein
Stellvertreter werden vom Kaiser ernannt, der
Präsident und Vizepräsident der Reichsduma von
dieser selbst erwählt. Falls Reichsrat und Reichs-
duma sich über einen Gesetzentwurf nicht einigen
können, so kann der Entwurf mit den von der
einen Körperschaft vorgeschlagenen Anderungen zur
weiteren Beratung an die andere gehen, oder es
wird eine besondere Ausgleichskommission gewählt,
die aus gleichviel Mitgliedern beider Kammern
besteht (Vorsitzender ein Mitglied nach freier Wahl
der Kommission); stimmen beide Körperschaften
bei einem Posten des Budgets trotz der Ausgleichs-
kommission nicht überein, so tritt der entsprechende
Posten des letzten gesetzlichen Staatshaushalts in
Kraft. Von beiden Körperschaften angenommene
Gesetze werden vom Vorsitzenden des Reichsrats
dem Kaiser vorgelegt und erhalten durch dessen
Sanktion Gesetzeskraft; vom Kaiser nicht sank-
tionierte Entwürfe können in der gleichen Session
nicht wieder zur Beratung eingebracht werden,
ein von einer Kammer selbst ausgehender Ent-
wurf, der von der andern abgelehnt wurde, nur
dann, wenn ein kaiserlicher Befehl dazu ergeht. —
Die Duma und der aus Wahlen hervorgehende
Teil des Reichsrats können vom Zaren vor Ab-
lauf ihrer Wahlzeit aufgelöst werden; der Auf-
lösungsukas hat das Datum der Neuwahl und
der Einberufung festzusetzen.
Der Reichsrat besteht teils aus vom Kaiser
ernannten teils aus gewählten Mitgliedern; die
Zahl der Ernannten darf die der Erwählten (98)
nicht überschreiten. Die Wahlmitglieder werden
auf 9 Jahre gewählt und in jeder Kategorie auf
3 Jahre zu einem Drittel erneuert; es werden
gewählt 6 Mitglieder von der Geistlichkeit der
orthodoxen Kirche (3 von der Mönchs-, 3 von der
Weltgeistlichkeit), je 1 Mitglied von den Gou-
vernements-Semstwoversammlungen der 34 Gou-
vermements, die Semstwos haben, je 1 Mitglied
von den Großgrundbesitzern derjenigen 15 Gou-
vernements, die das Semstwoinstitut nicht haben,
und des Donkosakengebiets, 6 (statt 10) Mit-
glieder von den Großgrundbesitzern der 10 polni-
Rußland.
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schen Gouvernements, 18 von den Adelsgesell-
schaften derjenigen Gouvernements, in denen
Adelswahlen stattfinden, 6 von der kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften und den Universitäten,
12 Mitglieder (je 6 für Handel und Industrie)
von dem Handels= und Manufakturrat, den
Handels- und Manufakturkomitees, den Börsen-
komitees und den Kaufmannsvorständen. — Mit
dem Reichsrat nur nominell in Verbindung stehen
4 rein beratende Körperschaften, deren Mitglieder
vom Kaiser ernannt werden und deren gutachtliche
Entscheidungen vielfach zum Ausgangspunkt kaiser-
licher Verordnungen werden; es sind dies das
„Erste Departement“ des Reichsrats, das zu-
ständig ist für die Einrichtung von Fideikommissen,
Bestätigung von Adelstiteln, bei strafrechtlichen
Angelegenheiten von Mitgliedern des Reichsrats
und der Reichsduma, bei Amtsvergehen der Mi-
nister und Hauptchefs der besondern Verwaltungen,
der Statthalter und Gouverneure (die damit der
ordentlichen Gerichtsbarkeit entzogen sind), das
„Zweite Departement“, dessen Zuständigkeit sich
erstreckt auf die Kassenberichte des Finanzministers,
der Staatskassen und -banken, auf private Eisen-
bahnen, Konzessionsverleihungen an Private,
Hergabe von Staatsländereien zu verschiedenen
Zwecken usw., ferner das Besondere Kollegium
ür Zwangsenteignung von Gütern und das Be-
ondere Kollegium für die Vorberatung von Be-
schwerden gegen die Entscheidungen des Dirigieren-
den Senats.
Reichsduma. Das gegenwärtige Wahlrecht
zur Duma beruht auf der kaiserlichen Verordnung
vom 3. (16.) Juni 1907, die im Widerspruch zu
den Staatsgrundgesetzen mit Berufung auf „die
geschichtliche Gewalt“ des Zaren erlassen wurde.
Die Wahlordnung ist für Gouvernements und für
die Städte mit eigner Vertretung verschieden.
a) In den Gouvernements erfolgt die Wahl
der Abgeordneten durch die sog. Gouvernements-
wahlversammlungen, deren Mitglieder (Wahl-
männer) in verschiedener Weise in jedem Kreis
des Gouvernements gewählt werden: 1. von der
Versammlung der Grundbesitzer des Gouverne-
ments: an dieser nehmen teil Personen, die in
dem Kreis seit einem Jahr steuerpflichtigen Grund-
besitz von bestimmter Größe (für die einzelnen
Kreise verschieden) als Eigentum oder zu lebens-
länglicher Nutznießung besitzen; Personen, die
Bergwerksliegenschaften in bestimmtem Umfang
oder ein bestimmtes unbewegliches (nicht ländliches
oder handelsgewerbliches) Vermögen besitzen, und
endlich Delegierte der im Kreis ansässigen kleineren
Grundeigentümer, die wegen des zu geringen Be-
sitzes nicht unmittelbar an der Versammlung teil-
nehmen können, und Delegierte der Geistlichen
der im Kreis Land besitzenden Kirchen;
2. von der ersten Versammlung der städtischen
Wähler, die einem höheren Zensus genügen: Per-
sonen, die in Städten mit mehr als 20 000 Ein-
wohnern unbewegliches Eigentum im Wert von