Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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gekommene Budget in Kraft und den Ministern 
werden monatlich Kredite bis zu 1½/2 des Gesamt- 
haushalts bewilligt. Anleihen können mit Aus- 
nahme von Kriegsanleihen und den Krediten für 
die provisorischen Zwölftel nur mit Zustimmung 
der Volksvertretung aufgenommen werden (wor- 
über sich die Regierung wiederholt hinweggesetzt 
hat). Wenn es auch der Volksvertretung zusteht, 
die Verfassung und den bestehenden Rechtszustand 
und die staatsbürgerlichen Rechte des einzelnen 
gegen Übergriffe der Verwaltungsbehörde zu ver- 
teidigen, so darf sie sich doch nicht in die Tätig- 
keit der Regierungsgewalt einmischen; in den 
Kammern dürfen keine Deputationen erscheinen 
und sie dürfen keine mündlichen oder schriftlichen 
Erklärungen entgegennehmen. Jede Kammer ordnet 
ihren Geschäftsgang und ihre Disziplinargewalt 
selber. Der Vorsitzende des Reichsrats und sein 
Stellvertreter werden vom Kaiser ernannt, der 
Präsident und Vizepräsident der Reichsduma von 
dieser selbst erwählt. Falls Reichsrat und Reichs- 
duma sich über einen Gesetzentwurf nicht einigen 
können, so kann der Entwurf mit den von der 
einen Körperschaft vorgeschlagenen Anderungen zur 
weiteren Beratung an die andere gehen, oder es 
wird eine besondere Ausgleichskommission gewählt, 
die aus gleichviel Mitgliedern beider Kammern 
besteht (Vorsitzender ein Mitglied nach freier Wahl 
der Kommission); stimmen beide Körperschaften 
bei einem Posten des Budgets trotz der Ausgleichs- 
kommission nicht überein, so tritt der entsprechende 
Posten des letzten gesetzlichen Staatshaushalts in 
Kraft. Von beiden Körperschaften angenommene 
Gesetze werden vom Vorsitzenden des Reichsrats 
dem Kaiser vorgelegt und erhalten durch dessen 
Sanktion Gesetzeskraft; vom Kaiser nicht sank- 
tionierte Entwürfe können in der gleichen Session 
nicht wieder zur Beratung eingebracht werden, 
ein von einer Kammer selbst ausgehender Ent- 
wurf, der von der andern abgelehnt wurde, nur 
dann, wenn ein kaiserlicher Befehl dazu ergeht. — 
Die Duma und der aus Wahlen hervorgehende 
Teil des Reichsrats können vom Zaren vor Ab- 
lauf ihrer Wahlzeit aufgelöst werden; der Auf- 
lösungsukas hat das Datum der Neuwahl und 
der Einberufung festzusetzen. 
Der Reichsrat besteht teils aus vom Kaiser 
ernannten teils aus gewählten Mitgliedern; die 
Zahl der Ernannten darf die der Erwählten (98) 
nicht überschreiten. Die Wahlmitglieder werden 
auf 9 Jahre gewählt und in jeder Kategorie auf 
3 Jahre zu einem Drittel erneuert; es werden 
gewählt 6 Mitglieder von der Geistlichkeit der 
orthodoxen Kirche (3 von der Mönchs-, 3 von der 
Weltgeistlichkeit), je 1 Mitglied von den Gou- 
vernements-Semstwoversammlungen der 34 Gou- 
vermements, die Semstwos haben, je 1 Mitglied 
von den Großgrundbesitzern derjenigen 15 Gou- 
vernements, die das Semstwoinstitut nicht haben, 
und des Donkosakengebiets, 6 (statt 10) Mit- 
glieder von den Großgrundbesitzern der 10 polni- 
Rußland. 
  
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schen Gouvernements, 18 von den Adelsgesell- 
schaften derjenigen Gouvernements, in denen 
Adelswahlen stattfinden, 6 von der kaiserlichen 
Akademie der Wissenschaften und den Universitäten, 
12 Mitglieder (je 6 für Handel und Industrie) 
von dem Handels= und Manufakturrat, den 
Handels- und Manufakturkomitees, den Börsen- 
komitees und den Kaufmannsvorständen. — Mit 
dem Reichsrat nur nominell in Verbindung stehen 
4 rein beratende Körperschaften, deren Mitglieder 
vom Kaiser ernannt werden und deren gutachtliche 
Entscheidungen vielfach zum Ausgangspunkt kaiser- 
licher Verordnungen werden; es sind dies das 
„Erste Departement“ des Reichsrats, das zu- 
ständig ist für die Einrichtung von Fideikommissen, 
Bestätigung von Adelstiteln, bei strafrechtlichen 
Angelegenheiten von Mitgliedern des Reichsrats 
und der Reichsduma, bei Amtsvergehen der Mi- 
nister und Hauptchefs der besondern Verwaltungen, 
der Statthalter und Gouverneure (die damit der 
ordentlichen Gerichtsbarkeit entzogen sind), das 
„Zweite Departement“, dessen Zuständigkeit sich 
erstreckt auf die Kassenberichte des Finanzministers, 
der Staatskassen und -banken, auf private Eisen- 
bahnen, Konzessionsverleihungen an Private, 
Hergabe von Staatsländereien zu verschiedenen 
Zwecken usw., ferner das Besondere Kollegium 
ür Zwangsenteignung von Gütern und das Be- 
ondere Kollegium für die Vorberatung von Be- 
schwerden gegen die Entscheidungen des Dirigieren- 
den Senats. 
Reichsduma. Das gegenwärtige Wahlrecht 
zur Duma beruht auf der kaiserlichen Verordnung 
vom 3. (16.) Juni 1907, die im Widerspruch zu 
den Staatsgrundgesetzen mit Berufung auf „die 
geschichtliche Gewalt“ des Zaren erlassen wurde. 
Die Wahlordnung ist für Gouvernements und für 
die Städte mit eigner Vertretung verschieden. 
a) In den Gouvernements erfolgt die Wahl 
der Abgeordneten durch die sog. Gouvernements- 
wahlversammlungen, deren Mitglieder (Wahl- 
männer) in verschiedener Weise in jedem Kreis 
des Gouvernements gewählt werden: 1. von der 
Versammlung der Grundbesitzer des Gouverne- 
ments: an dieser nehmen teil Personen, die in 
dem Kreis seit einem Jahr steuerpflichtigen Grund- 
besitz von bestimmter Größe (für die einzelnen 
Kreise verschieden) als Eigentum oder zu lebens- 
länglicher Nutznießung besitzen; Personen, die 
Bergwerksliegenschaften in bestimmtem Umfang 
oder ein bestimmtes unbewegliches (nicht ländliches 
oder handelsgewerbliches) Vermögen besitzen, und 
endlich Delegierte der im Kreis ansässigen kleineren 
Grundeigentümer, die wegen des zu geringen Be- 
sitzes nicht unmittelbar an der Versammlung teil- 
nehmen können, und Delegierte der Geistlichen 
der im Kreis Land besitzenden Kirchen; 
2. von der ersten Versammlung der städtischen 
Wähler, die einem höheren Zensus genügen: Per- 
sonen, die in Städten mit mehr als 20 000 Ein- 
wohnern unbewegliches Eigentum im Wert von 
 
	        
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