Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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erreichen, haben nur eine Kollektivstimme. Auch 
Frauen können in bestimmten Fällen durch Bevoll- 
mächtigte an der Wahl teilnehmen. Nach den 1890 
getroffenen Anderungen des Semstwowahlrechts 
besitzt der Adel in 316 von 361 Kreisen die ab- 
solute Majorität. — Die Kreissemstwoversamm- 
lung wählt aus ihrer Mitte einen die Geschäfte 
führenden Ausschuß und entsendet 7—8 (unbesol- 
dete) Delegierte zur Bildung der Gouvernements- 
semstwoversammlung ab, in welcher der Gouver= 
nementsadelsmarschall den Vorsitz führt; auch diese 
wählt einen Ausschuß, der jährlich erneuert wird. 
In den drei baltischen Provinzen haben nur der 
grundbesitzende Adel und die andern Grundbesitzer 
in den Semstwos Stimme (in Livland jedoch auch 
Vertreter der Stadt Riga). — Die Semstwover- 
sammlungen haben sich im allgemeinen gut be- 
währt und trotz der geringen Mittel auf dem Ge- 
biet des Volksgesundheitswesens (Anstellung von 
Kreisärzten, Heilgehilfen, Hebammen usw.), der 
Schulbildung, durch Organisation der Feuerver- 
sicherung usw. große Verdienste erworben; poli- 
tische Rechte jedoch haben sie nie erlangen können. 
Bei vielen Abstimmungen sind die Semstwos an 
die Zustimmung des Gouverneurs gebunden, der 
gegenüber allen Beschlüssen der Gouvernements- 
semstwos ein aufschiebendes Vetorecht besitzt. 
Die Stadtverwaltung ist nach dem Mu- 
ster der preußischen Städteordnung organisiert. 
Die Leitung führt ein auf 4 Jahre nach einem 
Dreiklassensystem gewählter Gemeinderat (Stadt- 
duma) und ein von dem Gemeinderat gewähltes 
Stadtamt (Magistrat). Der Gouverneur hat den 
Beschlüssen der Stadtverwaltung gegenüber ein 
aufschiebendes Veto; Streitigkeiten zwischen dieser 
und den Administrativbehörden entscheidet die 
Gouvernementsbehörde für städtische Angelegen- 
heiten. Einige Städte nebst Vororten (St Peters- 
burg, Odessa usw.) sind zu besondern Stadthaupt- 
mannschaften zusammengefaßt. Die Landgemeinde- 
ordnung weist das Rußland eigentümliche Institut 
der Wolost auf. Das platte Land wurde nach 
der Bauernbefreiung zu Verwaltungszwecken in 
kleine Einheiten geteilt, deren Grenzen meist mit 
denen des Kirchspiels übereinstimmen; ein solcher 
Bezirk heißt Wolost. In den größeren Kirchdörfern 
fallen Dorfgemeinde und Wolostgemeinde zusam- 
men, kleinere Dörfer werden zu einer Wolost zu- 
sammengefaßt. An der Spitze der kleineren zu einer 
Wolost gehörigen Dorfgemeinden steht ein ge- 
wählter Beamter, der Starosta („Altester"), der 
für den Eingang der Steuern, für Rekrutierung, 
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung usw. 
zu sorgen hat. Organ der Samtgemeinde, der 
Wolost, ist die Wolostversammlung, die aus den 
Wahlbeamten der zugehörigen Dorfgemeinden und 
aus Vertretern der Höfe (je 1 auf 10 Höfe) be- 
steht. Die Wolostversammlung wählt den Wolost- 
schulzen oder Altesten („Starschunga“), die Beige- 
ordneten und den Wolostrichter. In polizeilicher 
und richterlicher Hinsicht unterstehen der Wolost 
Rußland. 
  
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alle Bauern und Kleinbürger, nicht aber der Mdel. 
Die Wolost ist die kleinste administrative Ein- 
heit. Sie besitzt auch richterliche Befugnisse; es 
unterliegen ihr alle bürgerlichen Streitigkeiten bis 
zum Wert von 300, bei Erbschaften bis 500 Ru- 
bel, und sie ist ausschließlich zuständig für alle 
Streitigkeiten hinsichtlich des „Anteillandes“ (s. N). 
Die Wolostrichter werden vom Landhauptmann 
aus 8 von der Gemeinde gewählten, über 35 Jahre 
alten ortsansässigen Bauern auf 3 Jahre bestimmt. 
Die Gerichtsbarkeit der Wolost soll durch Friedens- 
gerichte ersetzt werden. 
V. Rechte des Volks; Stände. Die russi- 
schen Untertanen zerfallen rechtlich in drei Kate- 
gorien: in geborne Untertanen, in finnische Bürger 
(s. unten, Finland) und Fremdgebürtige; zu letz- 
teren gehören die sog. östlichen, auf einer niedrigeren 
Kulturstufe stehenden und nach ihren eignen Ge- 
setzen regierten Fremdvölker sowie die Juden (s. 
oben Sp. 781). Die „Untertanschaft“ wird er- 
worben durch Geburt, bei Frauen durch Heirat mit 
einem russischen Untertanen, oder durch Naturalisa- 
tion. Letztere erfolgt in der Regel erstnach mindestens 
fünfjährigem Aufenthalt; für einige Kategorien 
von Personen (in russischen Diensten stehende Aus- 
länder, Personen, die große Kapitalien in Ruß- 
land investiert haben usw.) tritt eine Abkürzung 
der Wartezeit ein. Nicht naturalisiert werden 
Juden, Derwische und verheiratete, aber von ihrem 
Gatten getrennte Ausländerinnen. Die russischen 
Untertanen sind verpflichtet zur Ableistung der 
Wehrpflicht, zur Zahlung der gesetzlich bestimmten 
Steuern und zur Entrichtung von Dienstleistungen 
für die Staatsgewalt und lokalen Körperschaften. 
Die Rechte der Russen, die in den Staatsgrund- 
gesetzen vorgesehen sind, sind bis zu einer weiteren 
gesetzlichen Reglung, die in Angriff genommen ist, 
einstweilen ziemlich problematisch, da noch die 
meisten aus der Zeit des Absolutismus stammen- 
den Gesetze gelten, die der Verwaltungswillkür 
weiten Spielraum lassen. Niemand darf nach den 
Staatsgrundgesetzen anders als in gesetzlich be- 
stimmter Ordnung gerichtlich verfolgt, nicht will- 
kürlich in Haft genommen werden; jeder Untertan 
genießt freie Wahl des Wohnorts (außer den 
Juden), der Beschäftigung, des Erwerbs, der Ver- 
äußerung von Gütern, Unverletzlichkeit der Woh- 
nung und des Eigentums (Zwangsentäußerung 
darf nur gegen Entschädigung erfolgen), ein ge- 
wisses (allerdings sehr beschränktes und verküm- 
mertes) Versammlungs= und Vereinsrecht, eine 
durch das „Preßreglement" sehr beschränkte, viel- 
fach illusorisch gemachte Preßfreiheit, Glaubens- 
freiheit usw. Die Ausländer genießen grundsätzlich 
die gleichen bürgerlichen Rechte wie die Untertanen, 
in mancher Hinsicht größere, als sie sonst die Aus- 
länder besitzen (sie können in der Unterrichts= und 
Medizinalverwaltung in den Staatsdienst treten 
und gewisse Ehrenrechte erwerben); einige Ein- 
schränkungen bezüglich des Erwerbs von Grund- 
besitz bestehen in Polen, Westrußland, im Kau- 
 
	        
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