Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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kasus und in Turkestan. Eintriit und Aufenthalt 
in Rußland darf nur unter Beobachtung der Paß- 
vorschriften geschehen; Zigeunern, Landstreichern, 
rumänischen Juden ohne Subsistenzmitteln usw. 
sowie den Jesuiten ist der Zutritt verboten, den 
Juden nur unter großen Einschränkungen gestattet. 
Eine erhebliche Beschränkung der Rechte der 
Untertanen tritt ein während der Geltung der sog. 
Ausnahmezustände, die in ausgedehntem 
Maß „zur Sicherung der Staatsordnung und der 
öffentlichen Ruhe“ verhängt werden. Außer dem 
Kriegszustand, in dem der nur dem Kaiser ver- 
antwortliche Kommandierende der Armee fast un- 
umschränkte Gewalt besitzt, sind es der „Zustand 
des verschärften Schutzes“ und der „außerordent- 
liche Zustand“. Beide geben, in mehr oder minder 
großem Umfang, den obersten Verwaltungsbehör= 
den außergewöhnliche Vollmachten zur Aufrecht- 
erhaltung der Ordnung, so das Recht, Versamm- 
lungen zu verbieten, auf administrativem Weg 
Strafen, selbst die Verbannung zu verhängen, 
Aufenthaltsbeschränkungen zu verfügen, alle ge- 
werblichen und kaufmännischen Anstalten zu schlie- 
ßen, periodische Druckschriften zu unterdrücken, 
ganze Kategorien von Strafsachen an die Kriegs- 
gerichte zu überweisen usw. Die betreffende nach 
dem Attentat auf Alexander III. erlassene Ver- 
ordnung über die Ausnahmezustände sollte zunächst 
nur 3 Jahre gelten, wurde aber bis heute immer 
wieder durch kaiserlichen Ukas verlängert, obwohl 
dies nach dem Erlaß der Staatsgrundgesetze nur 
auf dem Weg der Gesetzgebung geschehen dürfte; 
zeitweilig erstreckte sich ihre Geltung über den 
größten Teil des Europäischen Rußland (so wurden 
im August 1906 nur 5 Gouvernements ohne 
Kriegs= oder Ausnahmezustand verwaltet). 
Stände. Die russische Bevölkerung ist seit 
alters in historisch gewordene Stände gegliedert; 
es sind dies folgende: der Adel, die Geistlichkeit 
der verschiedenen Konfessionen, Ehrenbürger, Kauf- 
leute, Kleinbürger, Handwerker (diese auch zu- 
sammengefaßt als Städterstand) und der Bauern- 
stand. Der Unterschied wird im Grund nur von 
der Gesetzgebung festgehalten, während er im wirk- 
lichen Leben wenig hervortritt und sich immer mehr 
verwischt, seit in den parlamentarischen und lokalen 
Körperschaften Angehörige aller Stände vereinigt 
sind. Ein erhebliches Vorrecht besitzt nur der (erb- 
liche) Adel. Der russische Adel ist Dienstadel 
und zerfällt in den erblichen und persönlichen Adel. 
Der erbliche Adel wird erworben durch Geburt und 
durch den Eintritt in die höheren Grade des Be- 
amtentums (im Zivildienst vom vierthöchsten Grad 
an, im Militärdienst vom Rang eines Obersten 
oder Kapitäns 1. Klasse an), ferner durch den Be- 
sitz aller Klassen des St Georgsordens, der drei 
ersten Klassen des Wladimirordens und der ersten 
Klasse der übrigen Orden; der persönliche Adel 
schon durch den neunten Beamtenrang im Zivil- 
dienst, durch den ersten Offiziersrang und durch 
Ordensverleihung. Der erbliche Adel besitzt zwei 
Rußland. 
  
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Organisationen: die erblichen Adelsleute eines 
jeden Gouvernements (außer in 5) bilden Adels- 
gesellschaften, die Mittelschulen und Pensionate 
unterhalten und zwei Mitglieder in die Pro- 
vinzialabteilung der Adelslandbank entsenden. 
Organe der Adelsgesellschaft sind die Gouverne- 
ments= und Kreisadelsversammlungen, die das 
Recht haben, Mitglieder wegen ehrloser Hand- 
lungen auszuschließen (die dann auch des parla- 
mentarischen Wahlrechts verlustig gehen) und die 
von den Gouvernements= oder Kreisadelsmar- 
schällen (die auch die Gelder der Adelskorporatio- 
nen verwahren und verwalten) präsidiert wer- 
den, ferner die Adelsdeputiertenversammlung, die 
aus dem Provinzialadelsmarschall und je einem 
Deputierten des Adels eines Kreises besteht und 
die Adelsmatrikel führt, die Adelsmarschälle und 
die Kreisadelskuratorien, die Ehrenkuratoren in die 
vom Adel unterhaltenen Lehranstalten entsenden.— 
Der Ehrenbürgerstand ist teils erblich teils 
persönlich; zu jenen gehören die Kinder erblicher 
Ehrenbürger, die persönlich Geadelten, die Geist- 
lichen der staatlich anerkannten christlichen Kon- 
"essionen, die transkaukasischen Scheichs-ul-Islam; 
gewisse Klassen (Kommerzienräte, Kaufleute mit 
Orden oder Beamtenrang, bestimmten Grund- 
oder Kapitalbesitz, höher Gebildete usw.) können 
beim Senat um Anerkennung als erbliche Ehren- 
bürger einkommen. Persönliche Ehrenbürger sind 
die Adoptivkinder erblicher Edelleute und erblicher 
Ehrenbürger; ebenso hat eine Reihe von Personen 
das Recht, beim Senat die Anerkennung als per- 
sönlicher Ehrenbürger zu beantragen. Die Zuge- 
hörigkeit zu den übrigen Ständen wird durch Ge- 
burt oder Einschreibung oder Aufnahme bestimmt. 
Zu den Ständen sind auch die Kosaken zu 
rechnen, die kein besonderes Volk bilden und sich 
von den übrigen Russen nur durch besondere Wehr- 
pflicht, etwas andere Agrargesetze und Organisa- 
tion unterscheiden. Ihr Ursprung geht in die Zeit 
der Tatarenherrschaft zurück. Während dieser bil- 
deten sich zu beiden Seiten des Dujepr (später in 
ähnlicher Weise an der Wolga, am Don, im Ural) 
freie Genossenschaften zur Bekämpfung der die 
ackerbautreibende Bevölkerung beunruhigenden 
Nomaden; sie trieben hauptsächlich Handel und 
Fischfang und übten sich bei der Unsicherheit der 
Straßen im Waffenhandwerk. Später ließen sie 
sich von den moskowitischen und litauischen Für- 
sten zum Schutz der Grenzen gegen die Tataren 
anwerben, führten gegen diese auch auf eigne Faust 
den Kleinkrieg. Im Lauf des 16. bis 18. Jahrh. 
entstanden durch Auswanderung in Sibirien, am 
Amur, Ussuri und im Kaukafus derartige Kosaken- 
genossenschaften. Die Eroberung des russischen 
Asien ist im wesentlichen ihr Verdienst. Man teilt 
die Kosaken in „Heere“ ein; es bestehen in der 
Gegenwart die Heere der Don-, der Kuban-, 
Terek-, Orenburg-, Ural-, Astrachan-, Trans- 
baikal-, Ussuri= und der sibirischen Kosaken. Der 
Großfürst-Thronfolger ist Ehrenataman sämt-
	        
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