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eine beratende Stimme. Staatliches Aufsichts-
organ und Vermittler zwischen dem Kaiser und
der Kirche ist der Oberprokuror des Heiligen
Synods, ein im Ministerrang stehender weltlicher
Beamter;z er ist der eigentliche Chef der orthodoxen
Kirche, der allein das Recht hat, dem Kaiser Vor-
trag über synodale Angelegenheiten zu halten und
dem Synod die kaiserlichen Befehle zu übermitteln;
er überwacht die Geschäftsführung des Synods,
der neben ihm zu einer nur beratenden geistlichen
Körperschaft geworden ist. Gegenüber allen Syn-
odalbeschlüssen hat der Oberprokuror unbeschränktes
Vetorecht. Von den orthodoxen Bischöfen haben
die von St Petersburg, Moskau und Kijew den
Rang eines Metropoliten; ferner gibt es einen
Exarchen von Grusinien (das Oberhaupt der
georgischen Kirche) und 68 Bischöfe, von denen
eine wechselnde Zahl den Titel Erzbischof führt,
ohne daß sie eine höhere Gewalt als die übrigen
Bischöfe besitzen. Außerdem gibt es an 50 bischöf-
liche Eparchialvikare und einige Missionsbischöfe
(Peking, Tokio, San Francisco). Jedem Bischof
steht ein Konsistorium zur Seite, dessen Mitglieder
vom Heiligen Synod ernannt werden. Die Bi-
schöfe werden fast nur aus dem Mönchs= oder
schwarzen Klerus genommen. — Von jeher hat in
der russischen Kirche das Sektenwesen eine weite
Verbreitung erlangt, so daß ein beträchtlicher Teil
der eigentlichen Russen nicht der Staatskirche an-
gehört. Seitens der orthodoxen Kirche waren sie
bis in die jüngste Zeit der heftigsten Verfolgung
ausgesetzt, und erst die Toleranzerlasse haben auch
ihnen mehr Bewegungsfreiheit gegeben. Die be-
deutendste der Sekten sind die sog. Altgläubigen
(Raskolniken), welche die vom Patriarchen Nikon
1667 eingeführten und von einem Konzil ge-
nehmigten Reformen in den äußern Zeremonien
und liturgischen Büchern nicht annahmen und
ihren Gottesdienst nach den alten vor Nikon ge-
schriebenen oder gedruckten Büchern abhalten. Sie
haben sich in zwei große Richtungen gespalten, die
der Priesterlosen und diejenigen, welche Priester
anerkennen; diese Richtungen außerdem wieder in
eine Anzahl kleinerer. Von den andern Sekten
sind zu nennen die Molokanen, die nur die Bibel
als Glaubensquelle anerkennen und in der Fasten-
zeit den Milchgenuß nicht verschmähen (daher ihr
Name), die Chlysten („Geißler“"), die protestan-
tischen Sekten der Stundisten in Südrußland, die
Adventisten ebenda usw. Von den rund 49700
schismatischen Kirchen und Kapellen sind an
37500 Pfarrkirchen. Der weiße oder weltliche
Klerus besteht aus 46 800 Priestern, 15000 Dia-
konen und 43 600 Kirchensängern. Die Zahl der
Klöster beträgt 1106 (658 für Männer, 442 für
Frauen) mit ungefähr 24 500 Mönchen und
69900 Nonnen.
Dienichtorthodoxen Kirchen. Alle nicht
der herrschenden Kirche Angehörigen genießen nach
Art. 66 und 67 der Staatsgrundgesetze freie Aus-
übung ihres Glaubens und Gottesdienstes nach
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl.
Rußland.
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den Gebräuchen ihres Glaubens. Auch den Juden,
Mohammedanern und Heiden ist Glaubensfreiheit
zugesichert. Nach dem von der Duma Juni 1909
angenommenen (aber 1910 noch nicht sanktionier-
ten) Gesetzsteht es jedem Volljährigen frei, sichirgend
einem Bekenntnis, auch einem nichtchristlichen,
anzuschließen; die nicht Volljährigen bedürfen
zum Religionswechsel der Einwilligung der Eltern
oder Vormünder. Bis zum 14. Jahr folgen die
Kinder dem Religionswechsel ihrer Eltern. Der
Genuß der staatsbürgerlichen Rechte ist von der
Art des religiösen Bekenntnisses unabhängig (nur
zu Ungunsten der Juden bestehen Ausnahmen).
Nicht geduldet werden fanatische Lehren, die mit
Angriffen auf das eigne oder fremde Leben, mit
eigner oder fremder Kastration oder mit offenbar
unsittlichen Handlungen verbunden sind.
Die Verwaltung der geistlichen Angelegen-
heiten aller nicht orthodoxen Konfessionen unter-
steht einer Abteilung des Ministeriums des Innern,
dem Departement für geistliche Angelegenheiten
fremdländischer Konfessionen (als solche gelten alle
christlichen Konfessionen außer der orthodoxen).
Für jedes Glaubensbekenntnis besteht eine beson-
dere geistliche Behörde.
Für die katholische Kirche Rußlands be-
steht als höchste kollegiale kirchliche Verwaltungs-
behörde das „Römisch-katholische geistliche Kol-
legium“ in St Petersburg, dessen Vorsitz der
Erzbischof-Metropolit von Mohilew führt. Die
Oberaufsicht über seine Geschäftsführung und die
Entscheidung über Genehmigung seiner Beschlüsse
steht dem Minister des Innern zu. Der Ver-
kehr der Kirche mit dem Papst erfolgt seit den
Zeiten Katharinas II. ausschließlich durch den
Minister der innern Angelegenheiten. Alle Bullen,
Sendschreiben und Verwaltungsakten der päpst-
lichen Kurie können in Rußland erst dann zur
Ausführung gebracht werden, wenn sie die durch
den Minister des Innern einzuholende kaiserliche
Genehmigung erhalten haben, wobei vorher fest-
zustellen ist, daß diese Akte nichts enthalten, was
den staatlichen Einrichtungen und den Rechten der
selbstherrlichen Verwaltung entgegensteht. Die
katholische Hierarchie Rußlands zerfällt in die
Polens mit der Metropole Warschau und den
Suffraganbistümern Kielcy, Lublin, Plotzk, San-
domir, Sejuy = Augustow und Wlozlawsk sowie
in die des eigentlichen Rußlands mit der Metro-
pole Mohilew und den Suffraganbistümern Kowno
(oder Samogitien), Luzk-Schitomir, Tiraspol und
Wilna; für die katholischen Armenier wurde 1909
ein eigner Administrator ernannt mit dem Sitz in
Tiflis. Für Sibirien ist die Errichtung einer
eignen Diözese in Vorbereitung. Nach den Kon-
ventionen zwischen dem päpstlichen Stuhl und der
russischen Regierung sollten die 12 Bistümer ins-
gesamt 24 Hilfsbischöfe zählen, doch ist diese Zahl
nie erreicht worden, und die bischöflichen Sitze selbst
sind oft lange verwaist. Die 13 Domkapitel haben
in den polnischen Diözesen je 12 Kanoniker, in
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