943
Westfalen und Lippe; 1884 wurde er zum Mit-
glied des preußischen Staatsrats, 1891 zum
lebenslänglichen Mitglied des preußischen Herren-
hauses berufen; 1887 bei Einführung der neuen
Provinzialordnung wurde er zum Mitglied des
westfälischen Provinziallandtags und in der Folge
auch als Mitglied des Provinzialausschusses und
des Provinzialrats gewählt. In allen diesen
Körperschaften wurde seinen Ansichten große Be-
deutung beigemessen und war sein Votum vielfach
maßgebend für die Gestaltung der Beschlüsse. Im
Jahr 1888 hatte er eine Audienz bei dem jungen
Kaiser Wilhelm II., in welcher wichtige landwirt-
schaftliche Fragen Erörterung fanden, und ebenso
im Jahr 1895, kurze Zeit vor seinem Tod, hatte
er noch eine mehrstündige Konferenz bei Sr Maje-
stät, bei welcher Gelegenheit die Grundzüge für
das dem Staatsrat zu unterbreitende landwirt-
schaftliche Programm aufgestellt wurden. Das
beabsichtigte Referat im Staatsrat zu halten, wurde
Schorlemer durch den Tod verhindert, wie denn
ja auch der Staatsrat niemals besondere Bedeu-
tung gewonnen hat.
Die Ausübung einer so vielseitigen Tätigkeit,
wie wir sie bisher geschildert, würde die Arbeits-
kraft der meisten Sterblichen nicht nur erschöpfen,
sondern sogar übersteigen. Dabei haben wir aber
der 20jährigen Wirksamkeit Schorlemers im Par-
lament noch nicht gedacht. Im Jahr 1870
wurde er zum Mitglied des preußischen Abgeord-
netenhauses und bald nachher auch des deutschen
Reichstags gewählt. Er blieb dann Mitglied beider
Körperschaften, bis er im Jahr 1887 sein Man-
dat zum Reichstag und 1889 auch dasjenige des
Abgeordnetenhauses niederlegte. 1890 wurde er
dann für Hamm und Seest und für Bochum gleich-
zeitig wieder gewählt, nahm für Bochum auch das
Mandat an, mußte es aber Ende desselben Jahrs
bereits wegen der schon länger bemerkbaren Er-
schütterung seiner Gesundheit wiederum nieder-
legen. Als Parlamentarier gehörte er der Zen-
trumspartei an und wurde in den schweren Zeiten
des Kulturkampfs immer in Verbindung mit
Windthorst, Mallinckrodt, Franckenstein und den
beiden Reichensperger genannt. Im Abgeord-
netenhaus wurde er schon bald zum ersten Vor-
sitzenden der Zentrumsfraktion gewählt und blieb
es bis zu seinem Austritt aus dem Landtag.
Als bedeutungsvolle Reden aus dem ersten
Jahrzehnt seiner parlamentarischen Tätigkeit sind
folgende zu nennen: 1872 über den römisch-katho-
lischen Religionsunterricht am Gymnasium zu
Braunsberg; 1873 über Abänderung d. Art. 15
und 18 der Verfassungsurkunde vom 31. Jan.
1850, über die kirchliche Disziplinargewalt und
die Errichtung des königlichen Gerichtshofs für
kirchliche Angelegenheiten, die Grenzen des Rechts
zum Gebrauch kirchlicher Straf= und Zuchtmittel,
die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen;
1874 über Beurkundung des Personenstandes und
die Form der Eheschließung, über Vorbildung und
Schorlemer-Alst.
944
Anstellung der Geistlichen; 1875 über Vermögens-
verwaltung der katholischen Gemeinden, Rechte
der altkatholischen Kirchengemeinden an dem
Kirchenvermögen, Einstellung der Leistungen aus
Staatsmitteln für die römisch-katholischen Bis-
tümer und Geistlichen, Vollziehung der Gefängnis-
strafe an solchen Gefangenen, welche wegen poli-
tischen Vergehens verurteilt sind, über Orden und
ordensähnliche Kongregationen der katholischen
Kirche; 1876 über den Gerichtshof zur Entschei-
dung der Kompetenzkonflikte, Dispositionsfonds
für allgemeine politische Zwecke, Anspruch des
Staats auf das Aufsichtsrecht bei der Vermögens-
verwaltung in den katholischen Diözesen, Zuschuß
für die Akademie Münster, Schulprämien und
Volksschriften, Verfahren der Regierung gegenüber
der Benutzung der von den Ordensgenossenschaften
der Kapuziner und Franziskaner innegehabten Ge-
bäude in Münster; 1877 über Leitung des Reli-
gionsunterrichts in den Volksschulen, staatliche
Ausübung von Zwang auf einen Geistlichen zur
Erteilung der Absolution, Antrag auf Vorlegung
des Entwurfs einer Landgemeinde-, Kreis= und
Provinzialordnung, Verhältnisse der katholischen
Parochie-Kosten; 1878 über Befugnisse der staat-
lichen Kommissarien für die bischöfliche Ver-
mögensverwaltung zur Anwendung von Zwangs-
mitteln, über gesetzgeberische Maßnahmen gegen
den Wucher; 1879 über Zolltarif und in den
verschiedenen Jahren die Reden zum Etat des
Kultusministeriums.
Sein ausgezeichnetes Rednertalent hat Schor-
lemer manchen Triumph im Parlament verschafft.
Dabei kam ihm seine klare, durchdringende Stimme
sehr zu statten; weiter wirkte sein schneidiges Auf-
treten, seine stattliche Erscheinung, seine gewählte
und knappe Ausdrucksweise, seine Schlagfertigkeit
und sein offenes, entschiedenes Wesen auf die Zu-
hörer in fesselnder Weise. Besonders fällt beim
Lesen seiner Reden aus den Zeiten des Kultur-
kampfs die Entschiedenheit und Schärfe auf, mit
welcher er dem allgewaltigen Kanzler, dem Fürsten
Bismarck, entgegentrat. Aber nicht Widerspruchs-
geist. Aufsässigkeit oder Feindseligkeit waren es,
welche ihn bei seinen Reden im Kulturkampf lei-
teten, sondern die innigste Liebe zu seiner Kirche
und zu seinem Vaterland, weil er einsah, daß bei
jenem Kampf Kirche und Staat gleichmäßig
Schaden litten. Im Jahr 1887 war es neben
des Fuldaer Bischofs Kopp, jetzigen Kardinals
und Fürstbischofs von Breslau, Bemühungen be-
sonders auch Schorlemers Mitwirkung zu danken,
daß damals das erste Friedensgesetz zur Beilegung
des Kulturkampfs zustande kam.
Bald trat aber ein unerwartetes Ereignis ein.
Es brachte ihn sein Bestreben, der Landwirtschaft
im Parlament größeren Einfluß zu verschaffen, im
Jahr 1893 mit der großen Majorität der lange
Jahre hindurch von ihm mit ausschlaggebendem
Einfluß geleiteten Zentrumspartei Westfalens in
scharfen Konflikt. Aus der Reihe der eignen