Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Nur in besondern Fällen kann die Gemeindebe- 
hörde anders bestimmen. Der Zweck der Vorschrift 
ist, die Autorität des Vaters oder Vormunds zu 
stärken, der so jederzeit in der Lage ist, den Eintritt 
in ein neues Arbeitsverhältnis zu verhindern oder 
von Bedingungen abhängig zu machen. Leider 
versagt die Reglung, wenn der Minderjährige 
andere, nichtgewerbliche Arbeit sucht, oder wenn 
er — über 16 Jahre alt — sich der Kontrolle 
entzieht und so der Vater oder Vormund nicht den 
Arbeitgeber kennt. Viel wirksamer würde es die 
Autorität der Eltern stützen, wenn nach jeder 
Lohnzahlung die Quittung des Vaters oder Vor- 
munds gefordert würde, ehe eine weitere Lohn- 
zahlung stattfindet, oder wenn mindestens denselben 
regelmäßig, etwa monatlich oder vierteljährlich, eine 
direkte Mitteilung über die gezahlten Lohnbeträge 
zugesandt würde. Eine solche Reglung ist zwar 
durch Ortsstatut möglich (Gew.O. 8 119a), aber 
leider bisher nur ganz vereinzelt durchgeführt wor- 
den. Die Hoffnung, daß durch die in der Gew. O.- 
Novelle von 1900 vorgeschriebene Einführung von 
Lohnzahlungsbüchern die ortsstatutarische Reglung 
erleichtert und allgemeiner eingeführt würde, hat 
sich leider auch nicht erfüllt, vielmehr haben sich 
die Widerstände der Arbeitgeber und Arbeiter und 
vor allem auch die Verständnislosigkeit der Eltern 
so stark erwiesen, daß auf die Durchführung ver- 
zichtet ist und die Bestimmungen wohl demnächst 
aufgehoben werden. Die Dringlichkeit des Ziels: 
Stärkung der elterlichen Autorität, wird allgemein 
anerkannt; ob ein anderer Weg — etwa ein ent- 
sprechender Ausbau der Fortbildungsschulen — 
zum Ziel führen wird, muß die Zukunft lehren. 
Bezüglich der Fortbildungsschulen pgl. 
dies. Art. 
Als nächstes Reformziel gesetzgeberischer 
Reglung erscheint die Ausdehnung der Schutzbe- 
stimmungen bezüglich der Arbeitszeiten auf männ- 
liche Arbeiter bis zum 18. Lebensjahr — nach 
dem Vorbild von England. 
III. Schutz der aArbeiterinnen. Dieselben 
Gründe, welche die Beschränkung der Beschäfti- 
gung jugendlicher Arbeiter notwendig gemacht 
haben, kommen, mehrfach sogar in erhöhtem Maß, 
für das weibliche Geschlecht in Betracht. Auch bei 
der erwachsenen Arbeiterin ist die Widerstands- 
kraft gegen die gesundheitlichen und sittlichen Ge- 
fahren der Fabrik schwächer als bei dem Arbeiter. 
Dazu kommt die Rücksicht auf den Beruf der 
Frau, auf ihre Stellung und ihre Aufgaben als 
zukünftige Hausfrau und Mutter. Je länger die 
Arbeitszeit, je anstrengender die Arbeit ist, desto 
mehr wird sie diesem ihrem ersten und natürlichen 
Beruf entfremdet. Anderseits läßt sich die Ar- 
beiterin um eines geringen baren Verdienstes 
willen viel mehr gefallen, weiß sie weniger ihre 
Rechte zu schätzen und zu schützen, als der er- 
wachsene Arbeiter. Eine besondere gesetzliche 
Fürsorge bedarf die verheiratete Frau, sowohl 
allgemein in Rücksicht auf ihre Pflichten als 
Staatslexikon. IV. 8. u. 4. Aufl. 
Schutzgesetze, gewerbliche. 
  
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Hausfrau und Mutter, wie speziell im Fall der 
Schwangerschaft und des Wochenbetts. 
In Deutschland sind durch die Gew.O.= 
Novellen von 1891 (Elfstundentag) und 1908 
(Zehnstundentag) eine Reihe von Bestimmungen 
zum Schutz der Arbeiterinnen vorgesehen. Die- 
selben gelten für dieselben Betriebe, auf welche die 
Schutzbestimmungen für jugendliche Arbeiter An- 
wendung finden (s. Abschn. II). Es ist bestimmt 
(6 137): 1) Die Arbeitszeit beträgt höchstens 
zehn Stunden täglich, an den Vorabenden der 
Sonn= und Festtage höchstens acht Stunden; 
2) die Nachtarbeit (von 8 Uhr abends bis 6 Uhr 
morgens) ist verboten; 3) die Arbeitszeit muß 
durch eine mindestens einstündige Mittagspause 
unterbrochen werden; für Arbeiterinnen, welche 
ein Hauswesen zu besorgen haben, muß diese Pause 
auf Antrag aufs 1 ½/ Stunde erhöht werden. 4) An 
den Vorabenden der Sonn= und Festtage muß die 
(achtstündige) Arbeitszeit spätestens um 5 Uhr 
schließen. 5) Nach Beendigung der täglichen Ar- 
beitszeit ist den Arbeiterinnen eine ununterbrochene 
Ruhezeit von mindestens elf Stunden zu gewähren. 
6) Wöchnerinnen dürfen vor und nach ihrer Nie- 
derkunft im ganzen während acht Wochen nicht 
beschäftigt werden. Ihr Wiedereintritt ist an den 
Ausweis geknüpft, daß seit ihrer Niederkunft we- 
nigstens sechs Wochen verflossen sind. 7) Arbeite- 
rinnen dürfen nicht in Kokereien und nicht zum 
Transport von Materialien bei Bauten aller Art 
verwendet werden. Auch dürfen sie nicht unter 
Tag beschäftigt werden; bei der Förderung (mit 
Ausnahmeder Aufbereitung, Separation, Wäsche), 
bei dem Transport und der Verladung auch nicht 
über Tag (§ 154 a). 8) Die Mitgabe von Arbeit 
nach Hause ist beschränkt (§ 137 a). Damit soll 
der Umgehung der gesetzlichen Arbeitszeit, wie sie 
vielfach von den Arbeitgebern beliebt wurde, vor- 
gebeugt werden. 
Zunächst ist bestimmt, daß, wenn jugendliche 
und weibliche Arbeiter die volle zulässige Arbeits- 
zeit hindurch im Betrieb beschäftigt werden, diesen 
überhaupt keine Arbeit nach Haus mitgegeben wer- 
den darf. Werden sie kürzere Zeit beschäftigt, so ist 
die Mitgabe resp. übertragung von Arbeiten nur 
in dem Maß zulässig, in welchem Durchschnitts- 
arbeiter ihrer Art die Arbeit voraussichtlich in dem 
Betrieb während des Restes der gesetzlich zuläs- 
sigen Arbeitszeit würden herstellen können. Da 
dieses Maß zweifelhaft sein kann, so soll die über- 
tretung der Vorschriften nicht sofort struffällig sein, 
vielmehr ist vorgesehen, daß bei Zuwiderhand- 
lungen die Polizeibehörde auf Antrag oder nach 
Anhörung der Gewerbeaufsichtsbeamten im Weg 
der Verfügung für einzelne Betriebe die übertra- 
gung oder Überweisung solcher Arbeit näher regeln 
oder von besondern Bedingungen abhängig machen 
kann. Dabei sollen beteiligte Arbeiter und Arbeit- 
geber oder, wo ein Arbeiterausschuß besteht, dieser 
vorher vom Gewerbeinspektor gehört werden. Gegen 
die Festsetzung ist Beschwerde an die höhere Ver- 
waltungsbehörde und weiter an die Zentralbehörde 
zulässig. Für Sonn= und Festtage ist die Mitgabe 
von Arbeit überhaupt nicht zuläsfig. 
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