Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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im Kampf zwischen Haus- und Fabrikdienst ihre 
Kräfte und Gesundheit aufreiben oder auf die Er- 
füllung ihrer häuslichen, namentlich ihrer Mutter- 
pflichten Verzicht leisten. Besuchen wir dann eine 
derartige ohne weibliche Aufsicht gelassene Arbeiter- 
wohnung, so finden wir die Wohnräume strotzend 
von Schmutz und mikroskopischem Ungeziefer, über- 
all Unordnung und Zerstörung, keinerlei geeignete 
Kochapparate, die kleinen Kinder verwahrlost, blut- 
a#m, skrofulös oder sonstwie kränkelnd, weil die- 
selben nicht nur der Muttermilch, sondern über- 
haupt der notwendigsten Mutterpflege entbehren 
müssen. Der Mann, welcher zu Haus weder ge- 
kochte Kost noch irgendwie behaglichen Aufenthalt 
findet, verfällt dann allmählich der Schnapsbude 
und dem seine körperliche und geistige Gesundheit 
mit Sicherheit zerstörenden Fuselgift, so daß wir 
in solcher Arbeiterfamilie, wenn auch Mann, Frau 
und Kinder dreifachen Lohn in Fabriken verdienen, 
doch nur Unordnung, Unreinlichkeit, Armut und 
Kränklichkeit antreffen. — Daß derartige Arbeiter- 
wohnungen in ähnlicher Weise wie die sog. Pennen 
der Vagabunden auch die eigentlichen Züchtungs- 
anstalten der meisten ansteckenden Krankheiten sind, 
welche sich von hier aus durch Schulen, Fabriken 
und sonstigen Verkehr verbreiten, ist eine durch die 
tägliche Erfahrung erwiesene Tatsache. In den 
Wohnungen der arbeitenden Volksklassen sind des- 
halb noch die wichtigsten Aufgaben der öffentlichen 
Gesundheitspflege zu lösen, welche aber ungelöst 
bleiben müssen, wenn nicht entweder durch die 
Macht der Volkssitte oder der Gesetzgebung die ver- 
heiratete Frau wieder genötigt wird, vor allem ihre 
natürlichen Pflichten gegen Mann und Kinder im 
Haus zu erfüllen. Meines Erachtens würden 
die Interessen der Industrie durch eine derartige 
die verheiratete Frau nur ausnahmsweise zum Fa- 
brikbetrieb zulassende gesetzliche Bestimmung eher 
gefördert wie gefährdet sein, da Männer und er- 
wachsene Kinder gefünder und also auch für alle 
Arbeiten leistungsfähiger werden müssen, sobald 
fie sich im geordneten Familienverband befinden und 
durch die Hausarbeit der Frau eine geeignete kör- 
perliche Pflege erhalten. — Der Wert der häus- 
lichen Frauenarbeit wird in der Regel weit unter- 
schätzt, weil derselbe sich nicht wie der Fabriklohn 
in klingender Münze darstellt; tatsächlich kommen 
aber die Arbeiter, deren Frauen Hauswesen und 
Kinderpflege selbst besorgen, weiter als diejenigen, 
deren Frauen in die Fabriken gehen, der Haus- 
arbeit sich entwöhnen und dann in der Regel den 
Fabriklohn für Putz und Naschereien wieder ver- 
ausgaben. Schiller sagt in seiner „Glocke": die 
Hausfrau mehrt den Gewinn mit ordnendem 
Sinn“; das alte deutsche Sprichwort: „Ist die Frau 
nicht hauserig, geht doch alles hinter sich Die 
Frau kann aber nicht hauserig sein, solang sie nicht 
Hausfrau, sondern Fabrikarbeiterin sein muß.“ 
Wohlwollende Arbeitgeber haben auf Grund 
dieser Erwägungen schon seit Jahren auf die Be- 
schäftigung verheirateter Frauen ver- 
zichtet, indem fie solche nicht annehmen und ihre 
unverheirateten Arbeiterinnen mit dem Tag der 
Verheiratung entlassen. Die Witwen der Fabrik 
erhalten Arbeit ins Haus (zum Nöppen, Spulen 
oder Zwirnen usw.), ebenso die jungen Frauen, die 
in ihrem Haushalt noch wenig Beschäftigung finden. 
Man könnte es mit Rücksicht auf letztere vielleicht 
hart und ungerechtfertigt finden, dieselben gleich 
Schutzgesetze, 
  
gewerbliche. 966 
mit dem Tag der Hochzeit aus der Fabrik auszu- 
schließen. Man könnte geneigt sein, einen andern 
Zeitpunkt, vielleicht das erste Wochenbett, zu be- 
stimmen. Oft besorgt die Mutter oder eine Schwe- 
ster der Frau oder des Mannes den Haushalt und 
die Pflege der Kinder: in diesem Fall erscheint erst 
recht ein solches Verbot hart. — Nun, es kommt 
eben auf den Ausgangspunkt der Betrachtung an. 
Es soll der Arbeiterin klar zum Bewußtsein kommen, 
daß sie mit dem Tag der Hochzeit einen neuen 
Stand antritt, daß ein neuer Kreis von Pflichten 
für sie beginnt, daß sie nun für den häuslichen 
Herd zu leben hat und für den Mann sich mühen 
muß. Es soll ihr zugleich Gelegenheit und Muße 
gegeben werden, Sinn und Verständnis und auch 
vor allem die nötige Tüchtigkeit für die häuslichen 
Arbeiten sich anzueignen. Endlich soll aber auch 
der Mann sich bewußt werden, welche Verpflich- 
tungen er mit dem Ehestand übernimmt: daß er die 
Frau ernähren, das Brot schaffen muß, daß es aber 
nicht der Würde des Mannes noch der der Frau 
entspricht, wenn letztere an der Maschine stehen soll, 
um mit dem Mann dem Erwerb nachzugehen. In 
der Tat halten die Mädchen in solchen Fabriken, 
welche keine verheirateten Frauen beschäftigen, viel 
mehr auf sich, sind vorsichtiger, einem Mann ihre 
Hand zu geben, und anderseits find auch die Ar- 
beiter viel mehr von dem Erust dieses Schritts 
durchdrungen als anderwärts. 
Dazu kommt noch folgendes. Wenn die Zahl der 
Kinder sich mehrt, lohnt die Fabrikbeschäftigung 
sich nicht mehr; ist es da nicht besser, daß die jungen 
Leute schon bei Abschluß der Ehe sich bewußt wer- 
den, daß der Mann Frau und Kinder ernähren 
muß und sich darauf (durch Sparsamkeit) einrichten, 
statt daß sie sich in bitterer Selbsttäuschung an den 
Mitverdienst der Frau gewöhnen und so später 
doppelt hart den Verlust empfinden?! 
Als dringendes Ziel muß es so betrachtet werden, 
die regelmäßige gewerbliche Beschäftigung verheira- 
teter Frauen in den Fabriken — überhaupt außer- 
halb des Hauses — als mit den Pflichten der 
Hausfrau und Mutter unvereinbar möglichst zu 
beschränken. Von der Erreichung dieses Ziels hängt 
die gesundheitliche und sittliche Zukunft unseres 
Volks ab. Und doch sind wir von diesem Ziel noch 
weit entfernt. Während in Industrie, Bergbau und 
Baugewerbe im Jahr 1895: 140 804 verheiratete 
Frauen gezählt wurden, betrug diese Zahl 1907: 
278 387. In der Textilindustrie allein stieg ihre 
Zahl von 70 655 auf 113 915, in der Industrie der 
Nahrungs= und Genußmittel von 23 656 auf 
48198, in der Papierindustrie von 6390 auf 12 182, 
im Bekleidungsgewerbe sogar von 6972 auf 18425, 
im polygraphischen Gewerbe von 2635 auf 7813. 
Diese Zahlen beweisen, daß der Appell an das 
wohlverstandene eigne Interesse der Arbeitgeber 
und die eigne Einsicht der Arbeiter und auch die 
Hoffnung auf die „Kulturentwicklung“ auch hier 
versagen. Gewiß, der Weg der Gesetzgebung ist 
schwierig. Zunächst würde eine Kürzung der Ar- 
beitszeit zu erstreben sein, etwa die Beschränkung 
der Beschäftigungsdauer auf 6 Stunden täglich, um 
die übrigen Stunden für die Familie freizuhalten 
(Antrag des Zentrums 1885). Noch bescheidener 
würde die Forderung sein, auf 8 Stunden die Be- 
schäftigungsdauer zu bemessen und an den Vor- 
abenden der Sonn= und Festtage die Arbeit nach 
2 Uhr zu verbieten (Antrag des Zentrums 1909). 
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