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im Kampf zwischen Haus- und Fabrikdienst ihre
Kräfte und Gesundheit aufreiben oder auf die Er-
füllung ihrer häuslichen, namentlich ihrer Mutter-
pflichten Verzicht leisten. Besuchen wir dann eine
derartige ohne weibliche Aufsicht gelassene Arbeiter-
wohnung, so finden wir die Wohnräume strotzend
von Schmutz und mikroskopischem Ungeziefer, über-
all Unordnung und Zerstörung, keinerlei geeignete
Kochapparate, die kleinen Kinder verwahrlost, blut-
a#m, skrofulös oder sonstwie kränkelnd, weil die-
selben nicht nur der Muttermilch, sondern über-
haupt der notwendigsten Mutterpflege entbehren
müssen. Der Mann, welcher zu Haus weder ge-
kochte Kost noch irgendwie behaglichen Aufenthalt
findet, verfällt dann allmählich der Schnapsbude
und dem seine körperliche und geistige Gesundheit
mit Sicherheit zerstörenden Fuselgift, so daß wir
in solcher Arbeiterfamilie, wenn auch Mann, Frau
und Kinder dreifachen Lohn in Fabriken verdienen,
doch nur Unordnung, Unreinlichkeit, Armut und
Kränklichkeit antreffen. — Daß derartige Arbeiter-
wohnungen in ähnlicher Weise wie die sog. Pennen
der Vagabunden auch die eigentlichen Züchtungs-
anstalten der meisten ansteckenden Krankheiten sind,
welche sich von hier aus durch Schulen, Fabriken
und sonstigen Verkehr verbreiten, ist eine durch die
tägliche Erfahrung erwiesene Tatsache. In den
Wohnungen der arbeitenden Volksklassen sind des-
halb noch die wichtigsten Aufgaben der öffentlichen
Gesundheitspflege zu lösen, welche aber ungelöst
bleiben müssen, wenn nicht entweder durch die
Macht der Volkssitte oder der Gesetzgebung die ver-
heiratete Frau wieder genötigt wird, vor allem ihre
natürlichen Pflichten gegen Mann und Kinder im
Haus zu erfüllen. Meines Erachtens würden
die Interessen der Industrie durch eine derartige
die verheiratete Frau nur ausnahmsweise zum Fa-
brikbetrieb zulassende gesetzliche Bestimmung eher
gefördert wie gefährdet sein, da Männer und er-
wachsene Kinder gefünder und also auch für alle
Arbeiten leistungsfähiger werden müssen, sobald
fie sich im geordneten Familienverband befinden und
durch die Hausarbeit der Frau eine geeignete kör-
perliche Pflege erhalten. — Der Wert der häus-
lichen Frauenarbeit wird in der Regel weit unter-
schätzt, weil derselbe sich nicht wie der Fabriklohn
in klingender Münze darstellt; tatsächlich kommen
aber die Arbeiter, deren Frauen Hauswesen und
Kinderpflege selbst besorgen, weiter als diejenigen,
deren Frauen in die Fabriken gehen, der Haus-
arbeit sich entwöhnen und dann in der Regel den
Fabriklohn für Putz und Naschereien wieder ver-
ausgaben. Schiller sagt in seiner „Glocke": die
Hausfrau mehrt den Gewinn mit ordnendem
Sinn“; das alte deutsche Sprichwort: „Ist die Frau
nicht hauserig, geht doch alles hinter sich Die
Frau kann aber nicht hauserig sein, solang sie nicht
Hausfrau, sondern Fabrikarbeiterin sein muß.“
Wohlwollende Arbeitgeber haben auf Grund
dieser Erwägungen schon seit Jahren auf die Be-
schäftigung verheirateter Frauen ver-
zichtet, indem fie solche nicht annehmen und ihre
unverheirateten Arbeiterinnen mit dem Tag der
Verheiratung entlassen. Die Witwen der Fabrik
erhalten Arbeit ins Haus (zum Nöppen, Spulen
oder Zwirnen usw.), ebenso die jungen Frauen, die
in ihrem Haushalt noch wenig Beschäftigung finden.
Man könnte es mit Rücksicht auf letztere vielleicht
hart und ungerechtfertigt finden, dieselben gleich
Schutzgesetze,
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mit dem Tag der Hochzeit aus der Fabrik auszu-
schließen. Man könnte geneigt sein, einen andern
Zeitpunkt, vielleicht das erste Wochenbett, zu be-
stimmen. Oft besorgt die Mutter oder eine Schwe-
ster der Frau oder des Mannes den Haushalt und
die Pflege der Kinder: in diesem Fall erscheint erst
recht ein solches Verbot hart. — Nun, es kommt
eben auf den Ausgangspunkt der Betrachtung an.
Es soll der Arbeiterin klar zum Bewußtsein kommen,
daß sie mit dem Tag der Hochzeit einen neuen
Stand antritt, daß ein neuer Kreis von Pflichten
für sie beginnt, daß sie nun für den häuslichen
Herd zu leben hat und für den Mann sich mühen
muß. Es soll ihr zugleich Gelegenheit und Muße
gegeben werden, Sinn und Verständnis und auch
vor allem die nötige Tüchtigkeit für die häuslichen
Arbeiten sich anzueignen. Endlich soll aber auch
der Mann sich bewußt werden, welche Verpflich-
tungen er mit dem Ehestand übernimmt: daß er die
Frau ernähren, das Brot schaffen muß, daß es aber
nicht der Würde des Mannes noch der der Frau
entspricht, wenn letztere an der Maschine stehen soll,
um mit dem Mann dem Erwerb nachzugehen. In
der Tat halten die Mädchen in solchen Fabriken,
welche keine verheirateten Frauen beschäftigen, viel
mehr auf sich, sind vorsichtiger, einem Mann ihre
Hand zu geben, und anderseits find auch die Ar-
beiter viel mehr von dem Erust dieses Schritts
durchdrungen als anderwärts.
Dazu kommt noch folgendes. Wenn die Zahl der
Kinder sich mehrt, lohnt die Fabrikbeschäftigung
sich nicht mehr; ist es da nicht besser, daß die jungen
Leute schon bei Abschluß der Ehe sich bewußt wer-
den, daß der Mann Frau und Kinder ernähren
muß und sich darauf (durch Sparsamkeit) einrichten,
statt daß sie sich in bitterer Selbsttäuschung an den
Mitverdienst der Frau gewöhnen und so später
doppelt hart den Verlust empfinden?!
Als dringendes Ziel muß es so betrachtet werden,
die regelmäßige gewerbliche Beschäftigung verheira-
teter Frauen in den Fabriken — überhaupt außer-
halb des Hauses — als mit den Pflichten der
Hausfrau und Mutter unvereinbar möglichst zu
beschränken. Von der Erreichung dieses Ziels hängt
die gesundheitliche und sittliche Zukunft unseres
Volks ab. Und doch sind wir von diesem Ziel noch
weit entfernt. Während in Industrie, Bergbau und
Baugewerbe im Jahr 1895: 140 804 verheiratete
Frauen gezählt wurden, betrug diese Zahl 1907:
278 387. In der Textilindustrie allein stieg ihre
Zahl von 70 655 auf 113 915, in der Industrie der
Nahrungs= und Genußmittel von 23 656 auf
48198, in der Papierindustrie von 6390 auf 12 182,
im Bekleidungsgewerbe sogar von 6972 auf 18425,
im polygraphischen Gewerbe von 2635 auf 7813.
Diese Zahlen beweisen, daß der Appell an das
wohlverstandene eigne Interesse der Arbeitgeber
und die eigne Einsicht der Arbeiter und auch die
Hoffnung auf die „Kulturentwicklung“ auch hier
versagen. Gewiß, der Weg der Gesetzgebung ist
schwierig. Zunächst würde eine Kürzung der Ar-
beitszeit zu erstreben sein, etwa die Beschränkung
der Beschäftigungsdauer auf 6 Stunden täglich, um
die übrigen Stunden für die Familie freizuhalten
(Antrag des Zentrums 1885). Noch bescheidener
würde die Forderung sein, auf 8 Stunden die Be-
schäftigungsdauer zu bemessen und an den Vor-
abenden der Sonn= und Festtage die Arbeit nach
2 Uhr zu verbieten (Antrag des Zentrums 1909).
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