Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Die Rechtsprechung mit Ausnahme der dem 
Bundesgerihi borbedalienen dompetenen ist Soche 
der Kantone. Überall besteht eine vollständig ge- 
trennte Gerichtsorganisation für die bürgerliche 
und für die Strafrechtspflege. a) Für die Zivil- 
rechtspflege gibt es. in jedem Kanton ein Gericht 
erster Instanz (Bezirks-, Distrikts-, Amtsgericht) 
sowie ein Ober= oder Appellationsgericht, das zu- 
gleich Aufsicht führt über die Untergerichte. Da- 
neben haben fast alle Kantone das Institut der 
Friedensrichter (Vermittler, Gemeinderichter), vor 
welche jeder Prozeß zuerst zu bringen ist, ehe er 
an das Gericht gelangen darf; sie haben häufig 
noch Einzelkompetenz bis zu einem gewissen Be- 
trag. b) In Strafsachen existieren meist besondere 
Gerichte, in den größeren Kantonen unter Mit- 
wirkung von Geschworenen; selten urteilen die 
Zivilgerichte auch in Strafsachen. Wo nicht Ge- 
schworenengerichte bestehen, geht die Berufung vom 
erstinstanzlichen Strafgericht an das auch in Zivil- 
sachen kompetente Obergericht. Die Funktion bei 
der Anklage steht bei einem Staatsanwalt, jedoch 
mit verschiedener Kompetenz; einige Kantone haben 
die staatliche Verteidigung. — Die Verbeistän- 
dung durch Advokaten ist in einigen Kantonen nur 
vor dem Obergericht, jedenfalls in den Unter- 
instanzen nur bei einem Streitwert von gewisser 
Höhe statthaft. In fast allen Kantonen werden 
die Richter der Untergerichte vom Volk auf 3/9 
Jahr nach Kreisen gewählt, die der Obergerichte 
in der Regel vom Großen Rat ernannt. Die 
Wählbarkeit zum Richteramt ist meist an keine 
juristische Bildung geknüpft; auch die Ausübung 
der Advokatur ist in einigen Kantonen (Unter- 
walden, Glarus, Zug, Schaffhausen, Appenzell- 
Außerrhoden, Graubünden) völlig freigegeben. 
Der Befähigungsausweis zur Ausübung der 
Praxis berechtigt auch in den übrigen Kantonen 
zur Ausübung der Advokatur. Die Richter wer- 
den überall vereidigt. Eine Anzahl von Kan- 
tonen haben Gewerbegerichte von Staats oder Ge- 
meinde wegen, aus Fachleuten zusammengesetzt, 
zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Ar- 
beitgebern und Arbeitern über den Dienstvertrag 
und vereinzelt auch über Haftpflichtprozesse. Da- 
neben üben sie zuweilen noch die Aussicht über 
Lehrlingswesen, über Fabrik- und Arbeitslokale: 
oder dienen als Einigungsämter. Als besonderer 
Beruf ist das Notariat in vielen Kantonen beson- 
ders organisiert, abgesehen von Zürich, Thurgau 
und Schwyz, wo die Notare als Staatsbeamte 
angesehen sind. 
Die Schweiz kennt keinen eigentlichen Be- 
amten stand. Die Verantwortlichkeit der Staats- 
und Gemeindebeamten ist in den einzelnen Kan- 
tonen verschieden geregelt. Wegen Verbrechen, die 
in amtlicher Stellung verübt werden, findet Über- 
weisung an den Strafrichter statt. Disziplinarische 
Ahndung gegenüber Beamten ist möglich; zeit- 
weilige Einstellung im Amt oder Entlassung kommt 
seltener vor als in monarchischen Staaten. Da- 
Schweiz. 
  
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gegen haben einzelne Kantone das Abberufungs= 
recht der Wahl= oder Aufsichtsbehörde auf dem 
Disziplinarweg. Eine schweizerische Eigentümlich- 
keit ist der Amtszwang besonders in den Urkan- 
tonen, vor allem zur Übernahme von Gemeinde- 
ämtern und Vormundschaften. Es gibt, aus- 
genommen für Geistliche, und Lehrer, keine An- 
stellung auf Lebenszeit; die Amtsdauer der Be- 
amten beträgt 1/8 Jahre, nach deren Ablauf sie 
stets wieder wählbar sind. Die Schweiz kennt mit 
Ausnahme von Basel-Stadt und Genf infolge- 
dessen keine Pensionierung der Beamten. Stän- 
dige Staatsangestellte werden fix besoldet; für die 
Volksvertretung, zeitweise und vorübergehende 
Funktionen besteht die Entschädigung in Tag- 
geldern. 
3. Die Gemeinde hatte von jeher besonders 
in der Ostschweiz eine weitgehende Autonomie; 
doch ist es überall das Staatsgesetz, welches die 
Organisation und den Wirkungskreis der Ge- 
meinde feststellt. Jeder Schweizer muß Bürger 
einer bestimmten Gemeinde sein. In jeder Ge- 
meinde unterscheidet man zwischen Bürgern und 
Einwohnern. Bürgerrecht erlangt man durch Ge- 
burt (Frauen durch Heirat) oder Einkauf. Jeder 
Bürger hat das Stimmrecht in allen Gemeinde- 
angelegenheiten, Anteil am Bürgergut und im 
Fall der Verarmung Anspruch auf öffentliche 
Unterstützung; die Einwohner haben bloß Nieder- 
lassungsrecht und Stimmrecht gleich den Kantons- 
bürgern mit Ausnahme von rein bürgerlichen An- 
gelegenheiten. Man erwirbt das Stimmrecht des 
Einwohners nach einer Niederlassung von drei 
Monaten. Den Gemeindesteuern (außer zu rein 
bürgerlichen Zwecken) und Kantonssteuern sind 
die Einwohner gleich den Bürgern unterworfen. 
Laut Bundesverfassung muß das Niederlassungs- 
recht jedermann gewährt werden, der unbescholten, 
im Besitz eines Heimatscheins und im Genuß der 
bürgerlichen Ehren ist. Wegen wiederholter Be- 
strafung infolge schwerer Vergehen oder Verlusts 
der bürgerlichen Ehren durch strafgerichtliches Urteil 
oder dauernder öffentlicher Unterstützungsbedürf- 
tigkeit kann das Niederlassungsrecht entzogen wer- 
den. Man kann unterscheiden zwischen pölitischen 
und Einwohnergemeinden und Bürgergemeinden; 
daneben existieren noch die koordinierten Verbände 
von Kirchen= und Schulgemeinden. Die poli- 
tische Gemeinde, welche alle in der Gemeinde 
niedergelassenen Schweizer Bürger umfaßt, wählt 
die Gemeindebehörden und -beamten, leitet Zivil- 
stands--, Vormundschafts (in der Regel)-, Steuer-, 
Straßen= und Bauwesen, Brandassekuranz, Orts- 
polizei und die Verwaltung ihrer Güter. Die 
Gemeindesteuern werden teils nach dem Vermögen, 
teils nach Zahl der Haushaltungen oder nach 
Kopfzahl (nur bei Männern), teils durch Zuschlag 
zu den Staatssteuern verteilt. Über wichtige 
Fragen der Gemeindeverwaltung entscheidet in der 
deutschen Schweiz, abgesehen von einigen städti- 
schen Gemeinwesen, die Gemeindeversammlung;
	        
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