Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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gibt, wenn er meint, daß dem Spruch ein offen- 
barer Irrtum zugrunde liege, die Sache an den 
Gerichtshof der Königsbank, welche die Sache vor 
eine neue „kleine Jury“ verweist; hierdurch ist der 
frühere Spruch beseitigt. Dem Angeklagten stehen 
noch andere Rechtsbehelfe gegen den Spruch zu, 
wie der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens, 
auf neue Untersuchung, wenn gewisse Voraus- 
setzungen vorliegen. 
In den Vereinigten Staaten von Amerika 
sehlt die „große Jury“; der vom Volk oder in 
einzelnen Staaten vom Gesetzgeber ernannte 
Friedensrichter führt in öffentlicher Verhandlung 
und im Beisein des Angeklagten die Vorunter- 
suchung. Gegen das in der Verhandlung vor den 
Geschworenen gesprochene Urteil hat der An- 
geklagte die Beschwerde an das Obergericht wegen 
erheblichen Rechtsirrtums. Im übrigen ist das 
Verfahren im wesentlichen dem englischen gleich. 
In Frankreich war während der großen 
Revolution ein dem englischen ähnliches Ver- 
fahren eingeführt; jedoch wurde die „große 
Jury“ bald beseitigt. Ein Richter führt in 
allen zur Zuständigkeit der Schwurgerichte (As- 
sisen) gehörigen Sachen die Voruntersuchung 
und erstattet der aus drei Gerichtsmitgliedern 
einschließlich seiner bestehenden Ratskammer Be- 
richt. Diese eutscheidet je nach Lage der Sache auf 
Einstellung des Verfahrens, oder sie verweist die 
Sache vor den aus wenigstens fünf Mitgliedern 
des Appellhofs bestehenden Anklagesenat. Letzterer 
entscheidet auf Vervollständigung der Vorunter- 
suchung oder auf Einstellung des Verfahrens oder 
auf Verweisung vor ein anderes Gericht oder end- 
lich auf Verweisung an die Assisen. Der Ange- 
klagte erhält keine Kenntnis von dem Ergebnis 
der Voruntersuchung. Die Zusammensetzung des 
Geschworenengerichts und die Verwerfung der 
Geschworenen ist anders, zum Nachteil des Ange- 
klagten gereichend, gestaltet. Das „Schuldig“ er- 
fordert nicht Stimmeneinhelligkeit, sondern nur 
Stimmenmehrheit; beträgt diese nur sieben, so 
stimmen die Richter ab; der Schuldigspruch er- 
folgt, wenn bei Zusammenzählung der Stimmen 
der Geschworenen und der Richter die Mehrheit 
sich ergibt. Letztere Bestimmung ist später dahin 
abgeändert worden, daß das Richterkollegium bei 
nur sieben Stimmen der Geschworenen die Sache 
vor ein anderes Schwurgericht verweisen kann. 
Mit Einführung des französischen Rechts in Bel- 
gien und in mehreren deutschen Landesteilen 
wurde auch das französisch-rechtliche Strafver- 
fahren eingeführt, jedoch in einzelnen Punkten 
verändert. 
In Preußen wurde im Jahr 1849 der An- 
klageprozeß mit Einfügung des Schwurgerichts- 
verfahrens nach französischem Muster in dem da- 
maligen Umfang der Monarchie, mit Ausschluß 
des Geltungsbereichs des französischen Rechts, ein- 
geführt. Im Jahr 1867 kam er auch in den neuen 
  
Provinzen (Hannover hatte das Schwurgerichts- 
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl. 
Schwurgerichte. 
  
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verfahren bereits seit der Mitte des 19. Jahrh.), 
jedoch mit mehreren nicht unwesentlichen Abwei- 
chungen und mit Einführung des Laienelements 
(der Schöffengerichte) für das Verfahren bei ge- 
ringfügigeren Strafsachen zur Einführung. 
3. Das Schwurgericht im Recht des 
Deutschen Reichs. Der Schwurgerichtsprozeß 
nach der deutschen Riichsstrasprozeßordnung, 
welche am 1. Okt. 1879 in Kraft getreten ist, ge- 
staltet sich wie folgt: Zuständig sind die Schwur- 
gerichte in den mit schweren Strafen bedrohten 
politischen Verbrechen, mit Ausnahme von Hoch- 
verrat und Landesverrat gegen Kaiser oder Reich, 
welche zur Zuständigkeit des Reichsgerichts ge- 
hören; ferner für die mit schweren Strafen be- 
drohten gemeinen Verbrechen und die mit einer 
solchen Sache verbundenen geringeren Delikte; in 
diesen letzteren Fällen ist die Zuständigkeit aus- 
geschlossen, wenn der Angeklagte zur Zeit der Tat 
das 18. Lebensjahr noch nicht überschritten hatte 
und die Sache nicht mit einer zur Zuständigkeit 
der Schwurgerichte gehörigen Sache verbunden 
ist. Sie sind ferner auf Grund von zulässigen 
landesgesetzlichen Vorschriften in Bayern, Würt- 
temberg und Baden für die durch die Presse be- 
gangenen strafbaren Handlungen zuständig. An- 
kläger ist der Staatsanwalt; derselbe befindet nach 
pflichtmäßigem Ermessen über die Strafverfol- 
gung. Er kann jedoch auf Antrag des Verletzten 
von der vorgesetzten Dienstbehörde oder durch Be- 
schluß des Oberlandesgerichts zur Erhebung der 
öffentlichen Klage genötigt werden. 
Erhoben wird die öffentliche Klage durch An- 
trag auf gerichtliche Voruntersuchung durch 
den Untersuchungsrichter; er kann nur aus Rechts- 
gründen abgelehnt werden. Das Voruntersuchungs- 
verfahren ist schriftlich und nicht öffentlich. Die 
Stellung der Parteien in diesem Verfahren ist nicht 
erschöpfend geregelt. Dem Angeschuldigten steht 
ein Recht zu, vernommen zu werden, auch bei den- 
jenigen Vernehmungen anderer Personen zugegen 
zu sein, die zur Beweissicherung dienen. Seine 
Vernehmung erfolgt in Abwesenheit des Staats- 
anwalts und des Verteidigers. Ein Verteidiger 
ist dem Angeschuldigten zu bestellen, wenn er einen 
solchen nicht gewählt hat; diesem muß nach Ab- 
schluß der Voruntersuchung Einsicht der Akten 
gestattet werden, während der Staatsanwaltschaft 
die Akteneinsicht in weiterem Umfang zusteht. Nach 
Abschluß der Voruntersuchung stellt der Staats- 
anwalt bei der aus drei Mitgliedern bestehenden 
Strafkammer, welcher der Untersuchungsrichter 
nicht angehören darf, seine Anträge; der Antrag 
auf Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgt durch 
Einreichung der Anklageschrift. Diese ist dem An- 
geschuldigten zur etwaigen Erhebung von Ein- 
wendungen und Stellung von Beweisanträgen 
mitzuteilen. Die Strafkammer beschließt hierüber 
oder über eine Ergänzung der Voruntersuchung. 
Wenn das Gericht befindet, daß der Angeschul- 
digte der strafbaren Handlung hinreichend ver- 
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