1065
nach den im Gesetz bestimmt definierten straf-
mindernden oder strafbarkeitsaufhebenden Um-
ständen noch eine allgemeine Frage nach dem Vor-
handensein mildernder Umstände auf An-
trag oder von Amts wegen vorzulegen ist, wenn
das Gesetz beim Vorhandensein solcher eine ge-
ringere Strafe androht. Solche Umstände sind in
keinem Strafgesetz definiert oder aufgezählt. Diese
Bestimmung entspricht wieder dem französischen
Recht. Die preußische Verordnung von 1849
enthielt eine solche nicht; sie findet sich zuerst im
preußischen Gesetz vom 3. Mai 1852. In dem
Entwurf der Reichsstrafprozeßordnung fehlte sie
aber, weil es sich hierbei lediglich um die allein
dem Richter gebührende Strafzumessung handelt.
Das ist ganz richtig. Den Geschworenen einen
Einfluß auf die Anwendung des Gesetzes, also auf
die Strafzumessung zu gestatten, indem sie durch
Bejahung der Frage, bei welcher unkontrollierbare,
oft nicht klar gedachte Motive, meist bloßes Mit-
leid mit dem Angeklagten, zugrunde liegen, den
Richter zwingen, eine geringere Strafe anzuwen-
den, ist eine vollständige Verschiebung des Ver-
hältnisses der Geschworenen und des Richters.
Gleichwohl ist die Bestimmung auf Beschluß der
Reichstagskommission ins Gesetz aufgenommen.
Fragt man, weshalb die Geschworenen nicht in
allen Strafsachen, auch in den geringeren und den
geringsten, mitzuwirken berufen sind, so ist zu er-
widern, daß dieses unausführbar wäre, schon weil
es an der erforderlichen Zahl von Geschworenen
fehlen würde. Nur für die Aburteilung der
schweren Verbrechen ist sie vorhanden. Bei ge-
ringfügigeren Delikten wird das Laienelement in
der zu Anfang gedachten Art zur Aburteilung zu-
gezogen; bei den zwischen beiden Arten von De-
likten liegenden Straftaten entscheiden nur Be-
rufsrichter. Es ist hier nicht der Ort, die Gründe
für diese verschiedenartige Behandlung der Straf-
sachen zu erörtern. Von besonderem Interesse ist
es dagegen, weshalb gerade die schwersten poli-
tischen Verbrechen, Hoch= und Landesverrat
gegen Kaiser und Reich, den Schwurgerichten ent-
zogen und dem Reichsgericht überwiesen sind. Die
Reichstagskommission hat dieses nicht beanstandet.
Es ist zwar geltend gemacht worden, daß gerade
diese Verbrechen an erster Stelle vor die Schwur-
gerichte gehörten. Anerkannt ist, daß Landes-
schwurgerichten die Entscheidung über die den
Bestand des Reichs gefährdenden Verbrechen nicht
überlassen werden dürfe, die Sachen vielmehr vor
ein Gericht des Reichs gehören. Ein Antrag auf
Bildung eines Reichsschwurgerichts wurde mit
großer Mehrheit abgelehnt, weil derselben unüber-
windliche Schwierigkeitenentgegenständen. Sollten,
wie vorgeschlagen war, die Geschworenen aus der
Zahl der Reichstagsabgeordneten genommen wer-
den, so würde das Gericht ein rein politisches
werden, indem die Politik in die Rechtspflege ein-
geführt würde, was grundsätzlich völlig unzulässig
sei. Sollten sie aber aus den einzelnen Landes-
Schwurgerichte.
1066
teilen entnommen werden, so könnte eintreten, daß
sie aus solchen Bezirken kämen, in denen der
Wunsch nach Losreißung vom Reich, also für
Hochverrat Sympathie besteht. Zudem seien die
nach jener letzteren Richtung hin gemachten Vor-
schläge praktisch unausführbar. Und endlich ent-
spreche die im Entwurf vorgeschlagene Einrichtung
dem Art. 45 der Reichsverfassung. Es ist nicht
zu verkennen, daß diese Gründe von schwerwiegen-
der Bedeutung sind, zumal das Deutsche Reich
noch so jungen Datums ist. Das Reich darf sich
gewiß nicht durch eine Gesetzgebung, welche zwar
den Vorzug der theoretischen Konsequenz hat, in
die Lage bringen, seinen Bestand zu gefährden.
Gegen die jetzige Organisation der Schwur-
gerichte spricht, daß den Geschworenen in ihrer
Beratung nicht ein tüchtiger Rechtskundiger zur
Seite steht, und darin liegt gleichzeitig eine In-
konsequenz gegenüber den Schöffengerichten. Bei
diesen, die nur minder schwere Strassachen ab-
urteilen, berät der Vorsitzende die Schuld= und
Straffrage. Die Laien haben eine Anleitung und
gleichzeitig einen Einfluß auf das Strafmaß. Beie
den schweren vor dem Schwurgericht abzuurtei-
lenden Sachen werden Schuld= und Straffrage
getrennt. Hier entscheidet der Geschworene, ob der
Angeklagte der Täter ist, und schreibt dem Berufs-
richter vor, ob er mildernde Umstände zugebilligt
erhalten soll oder nicht. Der eine Richter stellt
das „Schuldig“ fest und der andere soll nun sagen,
wie hoch die Schuld sei. Diese Zwiespältigkeit
des Urteils ist unbefriedigend, und das um so
mehr für den Angeklagten, denn er erfährt ja nie,
weshalb ihn die Geschworenen „schuldig“ ge-
sprochen haben.
Der Vorzug der Schwurgerichte liegt in der
Unabhängigkeit von der Verhandlungsleitung, in
der Gründlichkeit der Aufklärung und Erweckung
des Verständnisses für die Tätigkeit der Straf-
gerichte und Verbreitung der Rechtskenntnisse. Das
lebende Rechtsbewußtsein soll durch die Schwur-
gerichte im Volk erhalten und gestärkt werden. Es
soll teilnehmen an der Ausübung der Staats-
gewalt, um das Vertrauen zu unparteüscher Straf-
rechtspflege zu erhalten. Demgegenüber zeigt
aber die heutige Organisation eine solche Anzahl
von Fehlern teils schwerwiegender Natur, daß eine
Anderung dringend geboten ist.
Bei den seit dem Jahr 1894 über die Revision
der Strasprozeßordnung im deutschen Reichstag
geführten Verhandlungen ergab es sich, daß die
Einrichtung der (bisherigen) Schöffengerichte fast
allgemein als bewährt befunden ist; es wurden
Anträge gestellt, diese Einrichtung auch auf die
Aburteilung der vor die Strafkammern gehören-
den Straftaten (Vergehen und einzelne Verbrechen)
auszudehnen. Der Entwurf der Strafprozeß=
ordnung sieht auch die Besetzung der Strafkammern
mit Laien vor. Weiter aber gingen die Ansichten
einiger, konsequent auch die Schwurgerichte in
sog. „große" Schöffengerichte umzuwandeln. Man