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punkt ist der Selbstmord als völliger sittlicher
Bankrott zu bezeichnen. In der Begründung
dieses schweren Verdikts herrscht jedoch nicht volle
Einmütigkeit. Die innere Verwerflichkeit des
Selbstmords ergibt sich aus folgenden Momenten:
1. Er ist ein unnatürliches Verbrechen gegen
das eigne Menschenwesen, insofern hier der mäch-
tigste und zentralste aller Triebe, der Selbsterhal-
tungstrieb, widernatürlich unterdrückt und aus-
gemerzt wird. Die Selbstliebe und Selbstbehaup-
tung ist nicht bloß Recht, sondern auch undispen-
sable Pflicht, weil ihre Erfüllung die notwendige
Bedingung der Lösung der dem einzelnen ge-
stellten Lebensaufgabe bildet. Der Selbstmord
steht in einem so schroffen Gegensatz zu diesem
Grundtrieb, daß er immer ein psychologisches
Rätsel bleibt, und man es begreiflich finden kann,
wenn die Reigung besteht, den Selbstmord über-
haupt nur durch geistige Erkrankung zu erklären.
Er stellt sich dem menschlichen Empfinden als
etwas Unnatürliches dar. Das erste Urteil spricht
die menschliche Natur selbst, die vor solcher Tat
zurückschaudert. Grauen und Entsetzen ist der
erste Eindruck, den sie auf jeden normalen Men-
schen ausübt. Auch Paulsen, der dem Selbst-
mord keineswegs unbedingt ablehnend gegenüber-
steht, gesteht, daß das Grauen vor dem Tod am
stärksten sich äußere, wenn jemand selbst die Hand
gegen sein Leben erhebt (System der Ethik II/ 116).
Dieser Protest der Natur tritt auch in dem Be-
wußtsein der Völker hervor, das im großen und
ganzen den Selbstmord aufs entschiedenste ver-
urteilt. Im heidnischen Altertum läßt sich aller-
dings eine Strömung verfolgen, die dem Selbst-
mord sympathisch gegenübersteht. Sie erklärt sich
aus der im Heidentum herrschenden Verdunkelung
der sittlichen Begriffe sowie aus dem furchtbaren
moralischen und sozialen Elend der heidnischen
Welt, aus dem der Selbstmord den willkommenen
Ausweg zu bieten schien. Trotz dieser vereinzelten
Parteinahme zugunsten des Selbstmords ist es
eine unumstößliche Tatsache, daß selbst das Heiden-
tum laut und deutlich denselben verurteilte. Bei
den Griechen wurde dem Selbstmörder die Hand
abgehauen und die Grabesehre entzogen; die
Handlung erschien als eine Verletzung der Scheu,
mit welcher der antike Mensch gewalttätigen Ein-
griffen in die Naturordnung überhaupt gegenüber-
stand (Schmidt, Ethik der Griechen II 441). Die
Empfindung, daß dem Menschen nicht das Recht
zusteht, sein Leben willkürlich und gewaltsam ab-
zukürzen, spricht sich ganz in Ubereinstimmung mit
der antiken Staatsidee darin aus, daß dieses Recht
nur der Obrigkeit zugesprochen wurde. Da der
einzelne ganz im Staat aufging und seinen Zweck
nur im Wohl des Ganzen fand, so konnte die
Obrigkeit als Vertreterin der Gesamtheit allein
ihn von diesem Pflichtverhältnis lösen. Damit
wurde der Selbstmord der individuellen Rechts-
sphäre entrückt und mit einer gewissen Rücksicht
auf das Gemeinwohl umkleidet. Tatsächlich stellte
Selbstmord.
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auch die Obrigkeit in einzelnen griechischen Staaten
Erlaubnisscheine aus, wenn die für den Selbst-
mord angegebenen Gründe sich bei der Prüfung
stichhaltig erwiesen. Dagegen bestand ein abso-
lutes Selbstmordverbot für Soldaten und Ver-
brecher, weil der antike Staat diese Kategorien
von Menschen als ihm ausschließlich gehörig an-
sah. Erst in der Verfallszeit des griechischen und
römischen Volkslebens trat die Philosophie in
Widerspruch zu der „gemeinen Meinung“. Die
Schulen der Stoiker und Epikureer hielten den
Selbstmord für moralisch erlaubt, ja sie gefielen
sich darin, denselben zu apotheosieren. Und eine
große Zahl hervorragender Männer hat von dieser
Freiheit Gebrauch gemacht, und am Ausgang der
römischen Kaiserzeit war die Selbstmordmanie der
beredteste Ausdruck der verzweifelten politischen,
sozialen und ethischen Zustände und die treffendste
Widerlegung der Behauptung, der Polytheismus
sei die Quelle der heitern Weltauffassung und des
ungetrübten Lebensgenusses, während die jüdische
und christliche Ethik durch ihre Ideen von Sünde
und Strafe wahre Heiterkeit ersticke (ogl. Albrecht
Rau, Die Ethik Jesu (18991 29). Die Philo-
sophen priesen es geradezu als einen Vorzug
des Menschen, daß er die Freiheit besitze, das
Leben zu verlassen, wenn es seinen Wert verloren
habe. Seneca hielt es für heldenmütig, freiwillig
des Lebens sich zu entäußern, wenn sich keine
Möglichkeit zeige, in einer des Weisen würdigen
Ruhe und Unabhängigkeit zu leben (Ep. 24. 58;
De ira 3, 15; De provid. c. 2.6). Dagegen sagt
Cicero in seinem Cato maior von Pythagoras,
er habe verboten, ohne Erlaubnis des höchsten
Feldherrn von seinem Lebensposten zu desertieren.
Plato redet vom Selbstmord, wo er im dritten
Buch über die Gesetze von dem Mord der Ver-
wandten handelt, und argumentiert also: Was soll
nun der erleiden, der den nächsten seiner Ver-
wandten und den, der für den Teuersten gilt, um-
gebracht hat, d. h. der sich selbst entleibt und sein
vom Schicksal ihm bestimmtes Lebenslos gewalt-
tätig wegwirft, obwohl er weder dadurch, daß der
Staat es ihm als Strafe auferlegte, noch durch
ein schmerzvolles und rettungsloses Unglück — es
ist wohl der Wahnsinn gemeint — dazu genötigt
wurde, sondern lediglich aus Schlaffheit und
Feigheit eines unmännlichen Sinns? Ihm soll,
bestimmt Plato, eine Bestattung werden an ein-
samem Ort, ohne Ruhm und ehrendes Andenken
und ohne Grabsäule.
So schreckt die menschliche Natur kraft des in
sie eingesenkten Selbsterhaltungstriebs beinahe in-
stinktiv vor der freiwilligen Vernichtung des Lebens
zurück. Das Leben muß darum zuerst an seiner
tiessten Wurzel zerstört, der stärkste Trieb muß
zuerst ertötet werden, ehe die Handlung selbst voll-
bracht werden kann. Daraus ergibt sich, wie un-
natürlich der Selbstmord ist.
Das tritt noch deutlicher hervor, wenn man be-
denkt, daß der menschliche Selbsterhaltungstrieb