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nicht nur das physische, sondern auch das geistige
und ethische Leben zu bewahren sucht. Wenn auch
das geistige Leben nicht vernichtet werden kann
wie das leibliche, so wird es doch in seiner sitt-
lichen Entwicklung in unwiderruflicher Weise ge-
Selbstmord.
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resultat eines Lebens ist, in welchem der ganze
Fonds natürlicher und christlicher Sittlichkeit bis
auf den letzten Rest aufgezehrt wurde durch Laster
und Unglauben und alle Willensenergie sich in
Schwäche aufgelöst hat. Dieses innerlich aus-
hemmt und vernichtet. Der Selbstmörder spricht gehöhlte Menschenwesen bricht unter schweren
sich selbst das Todesurteil nicht bloß über sein Schicksalsschlägen zusammen, und es ist nur eine
Leibesleben, sondern auch über das seiner Seele. furchtbare Konsequenz, wenn auch der äußern
Auch nach der geistigen Seite muß der Selbst= Hülle dieses morschen Menschenwesens der Todes-
erhaltungstrieb längst ertötet sein, ehe die Schluß= stoß versetzt wird. Schon auf dem antiken Stand-
katastrophe sich vollzieht. „Der Selbstmord“, be= punkt erblickte man im Selbstmord höchst poten-
merkt Paulsen (a. a. O. II 120), „stellt sich, wenn zierte Charakterschwäche; der Selbstmörder galt,
man nicht die Ausnahmen, sondern die Regel ins wie Pythagoras sich ausdrückte, als Feigling, als
Auge faßt, als den Vollzug eines Verdammungs= Deserteur. Wenn man freilich gewissen Preß-
urteils dar, das der Selbstmörder selbst über sein erzeugnissen glauben will, so wäre jeder Selbst-
Leben spricht; es ist in der Regel das unschöne mord eine Heldentat. Diese Verherrlichung schöpft
Ende eines unschönen Lebens. Der Tod ist der einen Schein von Berechtigung aus der souveränen
Sünde Sold; das Wort des Apostels gilt sicher-Verachtung, mit der der Selbstmörder das Gut
lich der Regel nach von dem Tod durch eigne des Lebens behandelt. Aber es ist doch ein feiges
Hand. Es gibt Ausnahmen, vielleicht zahl-Beginnen, wenn jemand sein Leben wegwirft,
reiche Ausnahmen; aber sie heben die Regel nicht nicht um einen großen sittlichen Zweck zu verfol-
auf. An ihr hat sich das Volksurteil gebildet: gen, sondern weil er sich für unfähig erklärt, inner-
Der Selbstmord ist der naturgemäße Abschluß halb sich erhebender Schwierigkeiten auf seinem
eines verlorenen Lebens." Lebensposten auszuhalten oder gewissen Standes-
2. Der Selbstmord ist der absolute Gegensatz vorurteilen zu begegnen. Paulsen (a. a. O. II 119)
gegen die christliche Auffassung von der Bestim= will das Motiv der Feigheit nicht allgemein gelten
mung des irdischen Lebens. Der christliche Glaube lassen. „Es pflegt gesagt zu werden, Selbstmord
verbreitet neues Licht über den Wert des mensch= geschehe aus Feigheit. Es kommen gewiß Fälle
lichen Lebens und gibt damit auch die Richtschnur vor, in denen es so ist: ein Mann ohne Kraft, zu
für die Beurteilung des Selbstmords. Man kann
es, wie gesagt, begreiflich finden, wie das Heiden-
tum hierin einigermaßen schwanken und die stoische
Philosophie mit ihrem stolzen Tugendideal als die
einzige Lösung des Zwiespalts zwischen Ideal und
Leben den Selbstmord, das à#l#en d0
Zloo bezeichnen konnte (Hettinger. Lehrbuch der
Fundamentaltheologie [/2 1888] 102). Wer hin-
gegen die christliche Auffassung in sich trägt
über die Stellung des Menschen zu Gott, über
die Bedeutung und Aufgabe des diesseitigen
Lebens, wer vollends die Jüngerschaft Christi in
der Nachfolge in Kreuz und Anfechtungen erkennt,
muß den Selbstmord als schroffste Regation christ-
licher Weltanschauung verurteilen. Daß auch an
den gläubigen Christen in der Nacht der Leidens-
handeln und zu leiden, wird von einem Miß-
geschick getroffen und sieht keinen Ausweg als den
Strick, wo ein tapferer und tüchtiger Mann durch
Geduld und Widerstandskraft die Schwierigkeiten
überwunden und sein Leben wiederhergestellt hätte;
ein Bankier bringt die Gelder seiner Kunden durch
und schießt sich dann eine Kugel durch den Kopf;
gewiß ist das Feigheit und Niedertracht. Die
Sache liegt aber nicht überall so; wenn ein Mann
wie Themistokles nach ruhiger Überlegung seinen
Entschluß faßt und dann tut, was ihm notwendig
erscheint, um nicht seiner selbst Unwürdiges zu
leiden oder zu tun, so würde er den Vorwurf der
Feigheit wohl als einen etwas frostigen Schul-
meisterscherz belächelt haben.“ Wenn das Wohl
des Vaterlands das treibende Motiv für Themi-
stunden die Versuchung zum Selbstmord heran= stokles war und nicht die Furcht vor den Drohungen
treten kann, daß ein melancholisches Temperament, des Perserkönigs, die ihn bestimmen sollten, dem
daß gewisse Seelenzustände, wie die Skrupulosität Feind gegen Griechenland seine Dienste zu leisten,
u. a., dazu disponieren, ist zuzugeben; aber der hüten wir uns wohl, seine Handlung als Selbst-
Christ weiß sich auch in der Nacht des Unglücks in mord zu bezeichnen, es war Selbstaufopferung,
den Armen der göttlichen Vorsehung geborgen. bei der nur die subjektive Täuschung bestand, es
Der Selbstmord schließt in sich eine frevelhafte sei erlaubt, dieses Opfer des Lebens durch eignes
Aufkündigung des Gehorsams gegen Gott, ein Handeln zum Vollzug zu bringen. War es aber
brutales Zerstören des Lebenszwecks, ehe er erfüllt die Furcht, den persischen Einflüssen zu unterliegen,
ist, einen verachtungsvollen Verzicht auf Gott und so liegt darin weit mehr ein Mangel an sittlicher
seinen beseligenden Besitz in der Ewigkeit. st als ein Beweis sittlicher Größe. Es ist
auch nur eine Wurzel des christlichen Lebens noch heute freilich vielfach Ubung geworden, manchen
gesund ist, kann, von geistiger Störung abgesehen, Selbstmord mit einer Art von sittlicher Gloriole
der Selbstmord nicht vorkommen. zu umgeben. Man will, wie oben Paulsen, unter-
3. Damit stimmt es überein, daß der Selbst= scheiden zwischen dem gemeinen Selbstmord und
mord im eigentlichen Sinn regelmäßig das End= dem freiwilligen Tod, welchen der Mensch er-