Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Es wollte Roscher so, „die besondere Methode und 
das Verfahren der Forschung für sich in Anspruch 
nehmend, die seit den Physiokraten und Ad. Smith 
auf dem Gebiet der Volkswirtschaft geleistete Ar- 
beit nicht einfach bei Seite schieben und für ver- 
fehlt erklären; er wollte vielmehr die bestehende 
Theorie auf eine festere Grundlage stellen, indem 
er ihr Beobachtungsgebiet auf alle Völker und 
Zeiten ausdehnte. Er wollte ihrer Abstraktion 
größere Sicherheit verleihen, indem er das Wesent- 
liche an den Erscheinungen auf vergleichende 
Weise zu ermitteln sucht“, auch wollte er endlich 
„die historische Erfahrung für die Wirt- 
schaftspolitik nutzbar machen, indem er die tat- 
sächlichen Bedingungen untersucht, unter denen die 
in der Geschichte auftretenden Institutionen und 
Organisationsformen der Wirtschaft wohltätig 
oder nachteilig wirksam geworden waren. Darin, 
daß er in diesem Punkt den absoluten Maßstab 
der Franzosen und Engländer aufgab, von wel- 
chem aus die einzelnen Wirtschaftsregeln entweder 
schlechthin gebilligt oder verworfen werden mußten, 
liegt zunächst der Unterschied gegenüber der Schule 
Ricardos“ (Bücher). 
Inwiefern Roscher seinen Lehrbüchern das eng- 
lische System in der von Rau (zu dem er in einem 
Pietätsverhältnis stand) verbesserten und von ihm 
selbst mehrfach modifizierten Gliederung des Stoffs 
zugrunde legte, erklärt Bücher besonders mit Bezug 
auf Roschers „Grundlagen der Nationalökonomie“: 
„Ist es doch der Kanon der von der Wissenschaft 
als feststehend anerkannten Lehren, was er in dem 
grundlegenden ersten Band seines „Systems" vor- 
trägt, — die Theorie, wie sie zu einer fast mathe- 
matischen Geschlossenheit ihrer Lehrsätze gelangt 
war“, denen aber Roscher auf Grund seiner um- 
fassenden historischen Bildung den Anspruch auf 
absolute Geltung nahm. Noscher gibt aber mehr 
als jenen Kanon — ein reiches, dogmengeschicht- 
liches Material, welches dem Leser die Ent- 
wicklung jedes wichtigen Lehrsatzes erschließt und 
zu selbständigem Denken anregt.“ Hatte die „Na- 
tionalökonomie unter den Händen von Ricardo 
und Hermann einen Grad der Abstraktion erreicht, 
unter dem ihre Verständlichkeit leiden mußte“, 
hatte sie „den isolierten Menschen zur Voraus- 
setzung ihrer Beweisführung genommen, — sein 
wirtschaftliches Tun losgelöst von seiner übrigen 
geistigen und sittlichen Existenz“, so betrachtete 
Roscher „nicht den Einzelmenschen, sondern die 
Völker in wirtschaftlicher Hinsicht. Er wollte 
die Nationalökonomie im engsten Bund mit den 
andern Wissenschaften vom Volksleben behandeln. 
Und hier tritt seine historische Methode in Wirk- 
samkeit. Aus der unerschöpflichen Fülle einer kaum 
von einem zweiten wieder erreichten historischen 
und ethnographischen Belesenheit wie aus einer 
sorgfältigen Einzelbeobachtung der modernen Wirt- 
schaft bringt er Erläuterungsbeispiele bei, beweist 
er, daß die vorgetragenen Lehren unter bestimmten 
geschichtlichen Voraussetzungen Ausnahmen und 
Noscher. 
  
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Einschränkungen erleiden, stützt und vertieft er die 
Beweisführung“ (Bücher a. a. O. 110 u. 111). 
Roschers Behandlung der praktischen National- 
ökonomie anlangend, so ist selbige „immer am 
meisten aufgefallen“. „Rau (Roschers Lehrer) 
hatte im entsprechenden Teil seines Lehrbuchs 
die Volkswirtschaftspolitik oder Volkswirtschafts- 
pflege behandelt, hatte eine Darstellung der Re- 
geln gegeben, nach welchen die Tätigkeit des 
Staats auf den Gebieten des Ackerbaus, Ge- 
werbes, Handels usw. eingerichtet werden soll. 
Noscher gibt eine spezielle Nationalökonomie des 
Ackerbaus, der Forstwirtschaft, des Handels und 
Gewerbefleißes. Er will untersuchen, wie die all- 
gemeinen Gesetze der Volkswirtschaft in diesem 
Sondergebiet wirksam werden, und hier erreicht 
denn auch seine historische Methode die größten 
und bleibendsten Erfolge. Er kann zeigen, unter 
welchen Bedingungen die einzelnen Betriebs= und 
Verfassungsformen der verschiedenen Wirtschafts- 
zweige historisch geworden, welche Wirkung sie 
gehabt, wie sie heute gestaltet sind, er kann die 
Pathologie und Therapie der auf diesem Gebiet 
auftretenden Krankheitszustände darlegen, das 
Wesen und den Wert der gesetzlichen Institutionen 
erörtern, die Vorzüge und Nachteile dieser oder 
jener Maßregel auseinandersetzen, alles belegt mit 
anschaulichen Beispielen aus der Literatur und 
eignen Erfahrung, wobei Allseitigkeit der Beob- 
achtung ihm oberster Grundsatz ist“ (Bücher 116). 
Roschers Lehrbücher tragen, um deren Bedeu- 
tung im einzelnen kurz anzudeuten, den dogmati- 
schen Lehrstoff, die rationalistische Schematik ver- 
werfend, mit breiter Menschen= und Weltkenntnis 
historisch und wissenschaftlich verfahrend, vor. Der 
erste Band des „Systems“ enthält die alte Grup- 
pierung im Anschluß an Rau mit reicher kultur- 
historischer Verbrämung. Die Finanzwissenschaft 
(1886) bietet „die abgeklärte Weisheit des erfah- 
renen praktisch-politischen Denkers“ (Schmoller). 
Dennoch werden sie von dem zweiten und dritten 
Band des Systems (Nationalökonomik des Acker- 
baus (1859] u. des Handels u. Gewerbefleißes 
[1881) in ihrer Bedeutung weit überragt. Hier 
hat der Kulturhistoriker sein rechtes Arbeitsfeld 
gefunden, hier Neues, Hervorragendes geschaffen: 
gegenüber der Dürftigkeit der Vorarbeiten Voll- 
endetes geleistet. Schmoller bezeugt ihm, „daß er 
hier Orientierungspfade durch den Urwald unserer 
Erkenntnis geschlagen“ (a. a. O. 156). Einen 
unvergleichlichen Fortschritt für die nationalöko- 
nomische Wissenschaft bedeutet nach der Vorarbeit 
von Kautz (1860) und in Ergänzung von Düh- 
rings „Kritischer Geschichte der Nationalökonomie 
und des Sozialismus“ (1871 u. 1875) Roschers 
„Geschichte der Nationalökonomik in Deutsch- 
land“. „Auf einmal war durch deutsche Gelehrte 
ein Fortschritt vollzogen, wie ihn kein anderes 
Land, wie ihn eine Reihe verwandter Wissen- 
schaften noch nicht aufzuweisen hatten“ (Schmoller 
a. a. O. 160). Ingram (Gesch. der Volkswirt-
	        
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