1091
lichen Trieb der Selbsterhaltung, so wird jener
antworten, er fühle diesen Trieb nicht mehr, und
damit sei ihm gleichsam von der Natur ein Wink
gegeben, daß er das Leben verlassen dürfe. Eben-
sowenig sei der Selbstmord ein Unrecht gegen die
Sozietät. Denn wer andern durch sein Dasein
mur zur Last sei und darauf verzichten könne,
ohne jemand zu betrüben, begehe kein Unrecht,
sondern erweise andern einen großen Dienst, indem
er zeige, wie jedermann es in der Hand habe,
einen Ausweg aus seinem Elend zu finden. Auch
Schopenhauer, Carlyle, Nietzsche u. a. haben den
Selbstmord zu rechtfertigen gesucht. Bekannt ist
des letzteren Ausspruch: „Der Gedanke an den
Selbstmord ist ein starkes Trostmittel, mit ihm
kommt man gut über manche böse Nacht hinweg“
(Jenseits von Gut und Böse 97). Paulsen
hält zwar den Selbstmord in der Regel für das
Ende eines geistig, moralisch, wirtschaftlich, sozial
zerrütteten Lebens, betrachtet es aber als unmög-
lich, „die Erhaltung des eignen Lebens unter allen
Umständen als Pflicht, die freiwillige Beendigung
als Pflichtverletzung zu konstruieren“. Friedrich
der Große habe während des siebenjährigen Kriegs
stets ein Giftfläschchen mit sich geführt, um im
Fall seiner Gefangenschaft davon Gebrauch zu
machen, damit nicht das Land seine Interessen
der Auslösung des Herrschers zu opfern in Gefahr
käme. Aus ähnlichem Motiv habe Themistokles
gehandelt; ähnlich handle der Kapitän, der sich
mit seinem Schiff in die Luft sprenge, um es dem
Feind nicht in die Hände fallen zu lassen; nie-
mand könne darin etwas Unmoralisches finden.
Solche und ähnliche Fälle aus der Profan= und
Kirchengeschichte ließen sich zahlreiche anführen.
Häufig genug haben christliche Jungfrauen sich
den Angriffen auf ihre Keuschheit durch einen selbst-
gesuchten Tod entzogen. Noch aus der neuesten
Zeit wird berichtet, bei der Belagerung der euro-
päischen Gesandtschaften in Peking hätten die
Frauen stets Revolver bereit gehalten, um im Fall
der Einnahme der Gesandtschaften sich den in
Aussicht stehenden Greueln zu entziehen. Wo es
sich um so edle, ja bewundernswerte Motive han-
delt, wird man sich besinnen, von Selbstmord im
herkömmlichen Sinn zu sprechen, vielmehr handelt
es sich um Taten heroischer Selbstaufopferung,
wenngleich der Irrtum unterläuft, es sei tugend-
haft, ja unter Umständen strenge Pflicht, sich selbst
das Leben zu nehmen, um einen hohen sittlichen
Zweck zu erreichen. Darum ist ein solches Tun
zwar objektiv und materiell im Widerspruch mit
dem Sittengesetz, aber formell und subiektiv schuld-
frei, ja ein hohes Verdienst. Dennoch muß man
prinzipiell unterscheiden zwischen dem passiven Ge-
schehenlassen, welches das Wesen der sittlich er-
laubten Selbstaufopferung ausmacht, und der
eigenmächtigen Herbeiführung der Todesursache.
Im ersteren Fall nimmt man im Dienst einer
großen Idee ein sich aufdrängendes hartes Ge-
schick mutvoll auf sich, man führt die Todesursache
Selbstmord.
1092
nicht selbsttätig herbei, sondern läßt sie an sich
herankommen. Von Selbstmord ist hier um des-
willen nicht die Rede, weil die Absicht nicht un-
mittelbar darauf gerichtet ist, sich selbst zu töten,
sondern einen edeln Zweck mit Gefahr des Todes
zu erreichen. Prinzipiell wenigstens muß dieser
Unterschied zwischen dem passiven Verzicht auf das
Leben und dem aktiven Setzen der Todesursache
festgehalten werden, wenn auch die Grenze, wo#
das Geschehenlassen ins Handeln übergeht, nicht
jedesmal sicher zu ziehen ist, und wenn insbeson-
dere jene, die in derartigen drangvollen Situa-
tionen sich befinden und unter dem Druck mächtiger
Einwirkung sich entscheiden müssen, selten Zeit und
ruhige Überlegung besitzen werden, um auch ob-
jektiv das Richtige zu treffen. Das Entscheidende
liegt darin, daß derjenige, der um eines großen
Zwecks willen sich in Todesgefahr begibt, sich den
Händen Gottes überantwortet und in christlicher
Hoffnung auf dessen Hilfe baut, während jener,
der sich selbst den Tod gibt, sich der Hand Gottes
entzieht und eigenmächtig sein Schicksal herbei-
führt (Linsenmann, Moraltheol. 118781 258).
Manche Theologen, z. B. Augustin (De civ. Dei
1, 26), Thomas von Aquin (8. th. 2, 2, q. 64,
a. 5 ad 4), sind der Meinung, daß manche Hei-
lige, die um eines sittlichen Ideals willen selbst
den Tod gesucht, auf höhere Eingebung gehandelt
haben.
Aber Paulsen geht in der Apologie des Selbst-
mords noch einen Schritt über den Fall der ak-
tiven Selbstaufopferung hinaus. Auch dann,
wenn der Entschluß gefaßt werde, um einem un-
erträglichen Leiden zu entgehen, würde er nicht
den Mut finden, die Handlung für verwerflich zu
erklären. „Wenn jemand, von irgend einem Ver-
druß oder einer Enttäuschung getroffen, feige und
kopflos sich davonmacht und die Seinen in Kum-
mer und Not zurückläßt, so ist ein herbes Ver-
werfungsurteil nicht ungerecht. Wenn er aber ein
hoffnungsloses und schmerzliches Leiden nicht mehr
tragen kann, wenn er empfindet, daß alle Welt
seiner müde ist und durch seinen Abgang sich
lediglich erleichtert fühlte, so wird das unbefangene
Gemüt anders urteilen. Freilich, wir werden
sagen: groß und erhebend ist es, wenn jemand
großes und schweres Leid mit ruhiger Geduld bis
zum Ende ausharrend erträgt, wir bewundern den
Helden im Leiden so gut wie den Helden im
Kampf. Aber Heldentum ist nicht Pflicht, es ist
verdienstlich, ein Held zu sein, aber es ist mensch-
lich, es nicht zu sein. Wir versagen dem, der
unter der Last zusammenbricht, unsere Teilnahme
nicht und vergessen nicht das Wort der Barm-
herzigkeit: Wer ohne Schuld ist, hebe den ersten
Stein auf. Wer da sagt, Selbstmord ist Selbst-
mord und als solcher verwerflich, da ist kein Unter-
schied, mit dem ist nicht zu streiten; sein eignes
Gefühl wird ihn im gegebenen Fall widerlegen“
(a. a. O. II 118 f). Eine solche rationalistische
Auffassung vom mernschlichen Leiden schlägt der