Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1095 Selbstmord. 1096 
natürlichen Lebensbedingungen und Arbeitsformen Völker einen bedeutend geringeren Prozentsatz auf- 
charakterisieren kann: frühzeitige Anstrengung des weisen als die germanischen (so zeigen Süditalien 
Gehirns, einseitige Verstands= oder Phantasie= und Spanien weniger als 25 Selbstmorde auf 
tätigkeit, verfrühte Stimulation sexueller Reize, 1 Mill. Einwohner auf). Im Grunde wäre hier- 
eine raffinierte Form des Genießens, die allgemeine nach die Nationalität ausschlaggebend: die 
Hast und Nervosität des modernen Erwerbslebens, Germanen und Skandinavier wären die selbst- 
das atemlose Rennen nach Glück und Erfolg, das mordlustigsten, während die Keltoromanen eine 
häufig mit Katastrophen und Enttäuschungen endet, geringe, die Lateiner und Slawen die geringste 
dazu der Einfluß der Presse, die dem Adwechs= Neigung dazu besäßen. Aber England, Norwegen, 
lungsbedürfnis des modernen Menschen nur allzu= Holland sowie die meisten katholischen Landesteile 
sehr durch alarmierende, sensationelle Nachrichten deutscher Nationalität weisen eine niedrige Selbst- 
entgegenkommt: all diese Besonderheiten unseres mordziffer auf, obwohl sie zu den germanischen, 
Kulturlebens, die natürlich am schärfsten in den Frankreich dagegen eine hohe, obwohl es zu den 
großstädtischen Zentren hervortreten, erzeugen Psy= keltoromanischen gehört. Daß die gesetzliche Be- 
chosen und begünstigen die Zunahme der Selbst= strafung des Selbstmordversuchs in England nicht 
morde. Dazu rechne man die damit im Zusammen= von sonderlicher Bedeutung sein kann, ist selbst- 
hang stehende „erbliche Belastung“ und die Ver- # verständlich. Weit mehr Berechtigung hat die An- 
wüstungen, die der Alkohol im Gehirn anrichtet, sicht, daß der Kampf ums Dasein, die ungünstigen 
und man wird gewiß in der Hyperkultur der Jetzt= wirtschaftlichen Zustände die Höhe der Selbst- 
zeit eine Quelle der häufigen Selbstmorde erkannt mordziffer verursachen. Ohne dem wirtschaftlichen 
haben. Man kann darum auch das Zugeständnis Faktor allen Einfluß absprechen zu wollen, ist 
machen, daß der Selbstmord in vielen Fällen die doch die allgemeine Fassung dieser Ansicht irrig, 
Folge geistiger Zerrüttung ist. Aber die sentimen= da gerade in ökonomisch verhältnismäßig günstig 
tale Beurteilung, welche den Selbstmord überhaupt gestellten Ländern, wie Frankreich, Dänemark, 
als einen sittlich nicht imputabeln Akt hinstellen Sachsen, die Selbstmorde am häufigsten sind, 
möchte, ist darum keineswegs gerechtfertigt. Den während sie in verarmten Ländern, wie Italien, 
Beweis hierfür will man darin finden, daß sich bei Spanien, Irland, verhältnismäßig selten sind. Es 
den Sektionen der Selbstmörder meist abnorme 1 ist auch für Preußen und Sachsen der statistische 
Gehirnbildungen zeigen. Aber ein ganz normales Nachweis erbracht, daß das Motiv der zerrütteten 
Gehirn findet sich wohl selten, und man könnte Vermögensverhältnisse und Nahrungssorgen nur 
nur dann auf Geistesstörung schließen, wenn die bei 11,9 bzw. 9,1 % der Selbstmordfälle zutrifft. 
Abnormität sehr bedeutend wäre. v. Mayr befür- 
wortet darum die obligatorische Sektion der Selbst- 
mörder zur Feststellung des Geisteszustands (d. a. O. 
699). Nach Morselli wäre ein Drittel aller Fälle, 
deren Motiv überhaupt angegeben ist, auf Geistes- 
krankheit zurückzuführen (bei Paulsen a. a. O. II 
120). Man kann sogar noch zugeben, daß diese 
Tat regelmäßig aus einer gewissen Zerrüttung 
des Seelenlebens hervorgehe. Es sind Krisen 
schlimmster Art, die auf das Seelenleben ein- 
stürmen; aber solche Zustände brauchen darum 
keineswegs die Freiheit und Zurechenbarkeit der 
Handlung aufzuheben. 
Die Einflüsse, welche von dem modernen Kultur- 
leben ausgehen, genügen aber durchaus nicht, um 
für sich allein die Zunahme und besonders die Ver- 
schiedenheit in der Selbstmordziffer der einzelnen 
Nationen zu erklären. Nach dieser Theorie bleiben 
gewisse Ausnahmen unerklärbar. In dem indu- 
striell so hoch entwickelten England ist die Zahl 
der Selbstmorde relativ gering; hier betrug sie im 
Jahr 1898 nur 92 auf 1 Mill. Einwohner, wäh- 
rend sie im Königreich Sachsen 302 betrug. Eine 
ebenso merkwürdige Ausnahme bilden Westfalen 
und Rheinland, die gewiß eine hohe industrielle 
Entwicklung aufzuweisen haben. Hier kann man 
auch die „wirtschaftliche Indolenz“ zur Erklärung 
nicht heranziehen, welche nach Paulsen (a. a. O. II 
121) das beste Schutzmittel gegen Selbstmord ist, 
und mit der es begründet wird, daß die romanischen 
Gewiß liegt in der modernen Kultur eine Tendenz 
zur Steigerung der Selbstmordziffer. Aber die 
Weltanschauung ist es, die sich diesem An- 
reiz gegenüber zu bewähren hat. Die Leugnung 
des Jenseits führt zu einer übertriebenen Wert- 
schätzung des Diesseits. Und wo das materiali- 
stische Trachten nach Gewinn und Genuß nicht 
den gehofften Erfolg findet, da umdüstert Unzu- 
friedenheit und Pessimismus das Gemüt. Aus 
dem Land schrankenlosen Lebensgenusses, Nord- 
amerika, wurde von förmlichen Selbstmordepide- 
mien berichtet: Junge Damen schlossen sich zu 
einem „Selbstmordklub“ zusammen, um sich ge- 
meinsam zu vergiften (Ruhland, System der polit. 
Okonomie III (1908) 224). 
Daß die Religion ein für die Erklärung 
der Selbstmordfrequenz wichtiger Faktor ist, steht 
außer Zweifel. Der Tiefstand des religiösen Lebens 
besitzt gerade in der Selbstmordziffer einen genauen 
Gradmesser. Durchschnittlich weisen protestantische 
Länder eine beträchtlich größere Zahl gegenüber 
den katholischen auf. Der protestantische Moral- 
statistiker Alexander v. Ottingen findet die Ursache 
des dem Protestantismus ungünstigen Resultats 
in dem Wesen der diesem eigentümlichen Lebens- 
auffassung. „Es ist, als ob der Subjektivismus 
mit der ihm eigenen Selbstverantwortlichkeit, wie 
sie durch die erhöhte Selbstkritik im Gegensatz zu 
bloß traditionellem Autoritätsglauben bei den Pro- 
testanten befördert wird, auch das im Elend 
 
	        
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