Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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drohende dämonische Gespenst, jenes verzweiflungs- 
volle Zerfallen mit sich selbst leichter hervorruft 
oder doch nicht in dem Maße zu verhindern im- 
stande ist" (Moralstatistik 616 ff). Man kann 
auch den Mangel der Ohrenbeichte und der da- 
durch ermöglichten Erleichterung von seelischem 
Druck als ein die höhere Selbstmordziffer prote- 
stantischer Völker beeinflussendes Moment erwäh- 
nen (v. Mayr a. a. O. 715). Darum muß auch 
ein der katholischen Kirche so abgeneigter Schrift- 
steller wie Masaryk diesem Tatbestand gegenüber 
den segensreichen Einfluß des Katholizismus an- 
erkennen. Die katholische Moral bietet mit ihrer 
Auffassung vom Leiden einen Damm gegen die 
krankhafte Selbstmordneigung. Freilich genügt 
der katholische Taufschein noch nicht, wenn die 
Religion in den furchtbarsten Krisen des Lebens 
ihre Kraft erweisen soll. Dies erklärt auch die 
hohe Selbstmordziffer Frankreichs, wo sie 1852 
bis 1891 infolge der systematisch betriebenen Ent- 
christlichung von 8.32 auf 22,5 von 100000 
Einwohnern berechnet steigen konnte. v. Mayr 
(a. . O. 716) glaubt allerdings dem konfessionellen 
Moment „eine allgemein ausschlaggebende Bedeu- 
tung“ nicht beimessen zu können. Das katholische 
Frankreich sei mit stärkster Selbstmordziffer be- 
lastet, während das protestantische Norwegen eine 
gegenteilige Erscheinung aufzeige. Aber ohne Ein- 
fluß sei das Glaubensbekenntnis sicherlich nicht. 
Die Sonderstellung Frankreichs findet in dem 
Obigen seine Erklärung. Immerhin weist die nie- 
drige Selbstmordziffer Englands und Norwegens 
darauf hin, daß die Konfession nicht ausschließlich 
die Selbstmordfrequenz bestimmt, sondern daß ein 
ganzer Komplex von Ursachen wirksam ist, unter 
denen jedoch das religiöse Moment wohl das 
wichtigste ist. In einer Untersuchung über die 
„Selbstmordstatistik in Bayern“ gelangt Rost 
dazu, „dem Wesen der katholischen Religion und 
ihren Bekennern in Ausübung ihrer Lehre und 
Anwendung ihrer Mittel einen unbestreitbaren 
Einfluß auf die geringe Beteiligung am Selbst- 
mord in Bayern und eine stärkere Gefeitheit gegen 
die krankhafte Selbstmordneigung zuzuschreiben“. 
— Noch verdient bemerkt zu werden, daß die 
Selbstmordziffer der Frauen und Kinder (Schüler) 
in der Neuzeit eine starke Steigerung erfahren hat, 
was sich bei den ersteren wohl aus der Frauen- 
emanzipationsbewegung (v. Mayr a. a. O. 708), 
bei letzteren als eine Folge der Erziehung, der Sug- 
gestion durch Lektüre (Romane, Presse) erklärt; 
selbst der Wechsel der Jahreszeiten ist auf die Zahl 
der Selbstmorde von Einfluß (v. Mayr a. a. O. 
719, 706). 
Literatur. Morselli, Der S. (1881); Masaryk, 
Der S#als soziale Massenerscheinung (1881); Reh- 
fisch, Der S., eine kritische Studie (1893); G. 
v. Mayr, S statistik, im Handwörterb der Staats- 
wissenschaften VI2 697 ff (mit zahlreichen Literatur- 
angaben); Louis Proal, Les suicides par misère 
à Paris, in Revue des Deux Mondes 1898 (1. Mai); 
Selbstverwaltung — Seminarien. 
  
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Pruner, S., in Wetzer u. Weltes Kirchenlex. XI2 
73 ff; Baer, Der S. im kindlichen Lebensalter 
(1901); Rost, Der S. in seinen Beziehungen zu 
Konfession u. Stadtbevölkerung im Kgr. Bayern, 
in Histor.-polit. Blätter CXXX (1902) 233; ders., 
Der S. als sozialstatist. Erscheinung (1905); Krose, 
Der Einfluß der Konfession auf die Sittlichkeit 
(1900); derf., Der S. im 19. Jahrh. (1906); ders., 
Die Ursachen der S.häufigkeit (1906); Gaupp, Der 
S. (21910); Walter, Der Leib u. sein Recht im 
Christentum (1910). [Walter.] 
Selbstverwaltung s. Staats= und Selbst- 
verwaltung. 
Seminarien. Seminarien im Sinn von 
Pflanzschulen des katholischen Klerus sind dem 
Wortlaut nach vom tridentinischen Konzil ein- 
geführt, der Sache nach im Grund so alt als die 
Kirche. Wenn der Stifter derselben seine Apostel 
mit größter Sorgfalt auswählt, sie während seines 
dreijährigen öffentlichen Lebens stets um sich hat 
und durch Beispiel und Lehre sie für ihren späteren 
Beruf erzieht, so mußten diese und ihre Nach- 
folger in ähnlicher Weise bestrebt sein, Jünger 
für den Dienst des Altars heranzubilden. Das 
Wort des Weltapostels an Timotheus: „Lege 
niemand voreilig die Hände auf“ (1 Tim 5, 22), 
verpflichtet den weihenden Bischof persönlich, sich 
von der Tauglichkeit der Weihekandidaten zu über- 
zeugen und für ihre Heranbildung Sorge zu 
tragen. Im ganzen christlichen Altertum galt des- 
halb das Haus des Bischofs als die Pflanz- 
schule für den Klerus, dessen er in seinem Sprengel 
bedurfte. Papst Leo der Große beruft sich auf die 
altehrwürdigen Verordnungen der Bäter, wenn 
er verlangt, daß diejenigen, „welche zur Priester- 
würde erhoben werden sollen, von frühester Jugend 
an lange Jahre hindurch sich der kirchlichen Er- 
ziehung erfreut haben müßten“ (Epist. 12, c. 4, 
ed. Baller. 1 673). Bekannt ist es, mit welchem 
Eifer und Erfolg der hl. Augustinus in Hippo, 
wo er die gemeinschaftliche Lebensweise des Klerus 
eingeführt hatte, die jungen Leviten heranbildete. 
Einen ähnlichen Ruf besaßen zeitweilig die bi- 
schöflichen Schulen von Vercellä, Emesa, Edessa, 
Nisibis, namentlich aber jahrhundertelang die 
lateranensische Schule zu Rom, aus der u. a. die 
Päpste Leo III., Paschalis I., Leo IV. hervor- 
gingen. Die zweite Synode von Toledo verordnet 
demgemäß im Jahr 531, daß diejenigen, welche 
nach dem Willen der Eltern für den Klerikalstand 
bestimmt seien, nachdem sie die Tonsur erhalten, 
in einem kirchlichen Haus in der Nähe des Bischofs 
unterrichtet werden, alsdann im 18. Jahr das 
Gelübde der Keuschheit ablegen und mit dem 
20. Jahr, wenn sie erprobt wären, den Ordo des 
Subdiakonats empfangen sollten (Conc. Tolet. 
2, c. 1; vgl. Conc. Tolet. 4, a. 633, c. 4; 
Conc. Turon. a. 813, c. 3, c. 12). Es pflegten 
deshalb auch die Bischöfe überall, wo sich die 
Kirche des Friedens erfreute, geräumige Gebäude 
(domus ecclesiae, episcopia) zu errichten, in 
welchen junge Kleriker wie einst die Propheten-
	        
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