1097
drohende dämonische Gespenst, jenes verzweiflungs-
volle Zerfallen mit sich selbst leichter hervorruft
oder doch nicht in dem Maße zu verhindern im-
stande ist" (Moralstatistik 616 ff). Man kann
auch den Mangel der Ohrenbeichte und der da-
durch ermöglichten Erleichterung von seelischem
Druck als ein die höhere Selbstmordziffer prote-
stantischer Völker beeinflussendes Moment erwäh-
nen (v. Mayr a. a. O. 715). Darum muß auch
ein der katholischen Kirche so abgeneigter Schrift-
steller wie Masaryk diesem Tatbestand gegenüber
den segensreichen Einfluß des Katholizismus an-
erkennen. Die katholische Moral bietet mit ihrer
Auffassung vom Leiden einen Damm gegen die
krankhafte Selbstmordneigung. Freilich genügt
der katholische Taufschein noch nicht, wenn die
Religion in den furchtbarsten Krisen des Lebens
ihre Kraft erweisen soll. Dies erklärt auch die
hohe Selbstmordziffer Frankreichs, wo sie 1852
bis 1891 infolge der systematisch betriebenen Ent-
christlichung von 8.32 auf 22,5 von 100000
Einwohnern berechnet steigen konnte. v. Mayr
(a. . O. 716) glaubt allerdings dem konfessionellen
Moment „eine allgemein ausschlaggebende Bedeu-
tung“ nicht beimessen zu können. Das katholische
Frankreich sei mit stärkster Selbstmordziffer be-
lastet, während das protestantische Norwegen eine
gegenteilige Erscheinung aufzeige. Aber ohne Ein-
fluß sei das Glaubensbekenntnis sicherlich nicht.
Die Sonderstellung Frankreichs findet in dem
Obigen seine Erklärung. Immerhin weist die nie-
drige Selbstmordziffer Englands und Norwegens
darauf hin, daß die Konfession nicht ausschließlich
die Selbstmordfrequenz bestimmt, sondern daß ein
ganzer Komplex von Ursachen wirksam ist, unter
denen jedoch das religiöse Moment wohl das
wichtigste ist. In einer Untersuchung über die
„Selbstmordstatistik in Bayern“ gelangt Rost
dazu, „dem Wesen der katholischen Religion und
ihren Bekennern in Ausübung ihrer Lehre und
Anwendung ihrer Mittel einen unbestreitbaren
Einfluß auf die geringe Beteiligung am Selbst-
mord in Bayern und eine stärkere Gefeitheit gegen
die krankhafte Selbstmordneigung zuzuschreiben“.
— Noch verdient bemerkt zu werden, daß die
Selbstmordziffer der Frauen und Kinder (Schüler)
in der Neuzeit eine starke Steigerung erfahren hat,
was sich bei den ersteren wohl aus der Frauen-
emanzipationsbewegung (v. Mayr a. a. O. 708),
bei letzteren als eine Folge der Erziehung, der Sug-
gestion durch Lektüre (Romane, Presse) erklärt;
selbst der Wechsel der Jahreszeiten ist auf die Zahl
der Selbstmorde von Einfluß (v. Mayr a. a. O.
719, 706).
Literatur. Morselli, Der S. (1881); Masaryk,
Der S#als soziale Massenerscheinung (1881); Reh-
fisch, Der S., eine kritische Studie (1893); G.
v. Mayr, S statistik, im Handwörterb der Staats-
wissenschaften VI2 697 ff (mit zahlreichen Literatur-
angaben); Louis Proal, Les suicides par misère
à Paris, in Revue des Deux Mondes 1898 (1. Mai);
Selbstverwaltung — Seminarien.
1098
Pruner, S., in Wetzer u. Weltes Kirchenlex. XI2
73 ff; Baer, Der S. im kindlichen Lebensalter
(1901); Rost, Der S. in seinen Beziehungen zu
Konfession u. Stadtbevölkerung im Kgr. Bayern,
in Histor.-polit. Blätter CXXX (1902) 233; ders.,
Der S. als sozialstatist. Erscheinung (1905); Krose,
Der Einfluß der Konfession auf die Sittlichkeit
(1900); derf., Der S. im 19. Jahrh. (1906); ders.,
Die Ursachen der S.häufigkeit (1906); Gaupp, Der
S. (21910); Walter, Der Leib u. sein Recht im
Christentum (1910). [Walter.]
Selbstverwaltung s. Staats= und Selbst-
verwaltung.
Seminarien. Seminarien im Sinn von
Pflanzschulen des katholischen Klerus sind dem
Wortlaut nach vom tridentinischen Konzil ein-
geführt, der Sache nach im Grund so alt als die
Kirche. Wenn der Stifter derselben seine Apostel
mit größter Sorgfalt auswählt, sie während seines
dreijährigen öffentlichen Lebens stets um sich hat
und durch Beispiel und Lehre sie für ihren späteren
Beruf erzieht, so mußten diese und ihre Nach-
folger in ähnlicher Weise bestrebt sein, Jünger
für den Dienst des Altars heranzubilden. Das
Wort des Weltapostels an Timotheus: „Lege
niemand voreilig die Hände auf“ (1 Tim 5, 22),
verpflichtet den weihenden Bischof persönlich, sich
von der Tauglichkeit der Weihekandidaten zu über-
zeugen und für ihre Heranbildung Sorge zu
tragen. Im ganzen christlichen Altertum galt des-
halb das Haus des Bischofs als die Pflanz-
schule für den Klerus, dessen er in seinem Sprengel
bedurfte. Papst Leo der Große beruft sich auf die
altehrwürdigen Verordnungen der Bäter, wenn
er verlangt, daß diejenigen, „welche zur Priester-
würde erhoben werden sollen, von frühester Jugend
an lange Jahre hindurch sich der kirchlichen Er-
ziehung erfreut haben müßten“ (Epist. 12, c. 4,
ed. Baller. 1 673). Bekannt ist es, mit welchem
Eifer und Erfolg der hl. Augustinus in Hippo,
wo er die gemeinschaftliche Lebensweise des Klerus
eingeführt hatte, die jungen Leviten heranbildete.
Einen ähnlichen Ruf besaßen zeitweilig die bi-
schöflichen Schulen von Vercellä, Emesa, Edessa,
Nisibis, namentlich aber jahrhundertelang die
lateranensische Schule zu Rom, aus der u. a. die
Päpste Leo III., Paschalis I., Leo IV. hervor-
gingen. Die zweite Synode von Toledo verordnet
demgemäß im Jahr 531, daß diejenigen, welche
nach dem Willen der Eltern für den Klerikalstand
bestimmt seien, nachdem sie die Tonsur erhalten,
in einem kirchlichen Haus in der Nähe des Bischofs
unterrichtet werden, alsdann im 18. Jahr das
Gelübde der Keuschheit ablegen und mit dem
20. Jahr, wenn sie erprobt wären, den Ordo des
Subdiakonats empfangen sollten (Conc. Tolet.
2, c. 1; vgl. Conc. Tolet. 4, a. 633, c. 4;
Conc. Turon. a. 813, c. 3, c. 12). Es pflegten
deshalb auch die Bischöfe überall, wo sich die
Kirche des Friedens erfreute, geräumige Gebäude
(domus ecclesiae, episcopia) zu errichten, in
welchen junge Kleriker wie einst die Propheten-