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nach Genf ausgewandert war. So sorgfältig die
häusliche Erziehung und die humanistische Aus-
bildung auf dem „Auditoire“ für die damaligen
Genfer Altbürger auch waren, schwere Familien-
schicksale und die endlosen Unruhen der Zeit
störten ihre Sicherung und innere Vollendung
für Jean-Charles auf das empfindlichste, zumal
bei der hohen Begabung und lebhaften Anteil-
nahme des Knaben an allem, was seine Familie
betraf. Das zeigte sich zeitlebens in der Charakter-
bildung Sismondis sowohl in der auf das Ab-
solutistische gerichteten altkalvinischen Denk= und
Anschauungsweise, die mit dem Rousseauschen
Humanitarismus Neu-Genfs stets um den Vor-
rang stritt, als auch in einem ausgeprägten Fa-
milien= und Heimatssinn.
Der tiefere Grund und Anlaß zu seinen trau-
rigen Jugendschicksalen war politischer Natur. In
den 1707 und 1712 in Genf anhebenden Ver-
fassungskämpfen waren seit dem Edikt von
1738, welches durch fremdländisches Eingreifen
das absolutistische Regiment der herrschenden Ge-
schlechter Alt-Genfs verstärkt hatte, die Emanzi-
pationsbestrebungen Neu-Genfs zurückgedrängt
worden. Vergeblich. Bald regte sich bei dem fort-
schreitenden Verfall kalvinischer Lehre und Ver-
fassung und bei dem Vordringen der republi-
kanischen Aufklärungsschwärmerei die Unzufrieden-
heit aufs neue, und es kam 1782 zu jener
Verfassungskomödie, welche zwar nochmals die
alte Machtstellung der Oligarchie mit Hilfe der
bewaffneten Intervention der Genfer Schutz-
mächte (Bern, Savoyen, Frankreich) rettete, aber
den Sieg des französischen Republikanismus und
damit das Schicksal vieler Genfer Altfamilien,
auch der Sismondis, besiegelte.
Mit ganz ungetrübter Rousseauschen Naivität
stand damals der Glaube an die Allmacht der
Verfassungsmacherei noch fest, zumal auch in der
aristokratischen Jugend, unter der der junge Sis-
mondi eine Republik mit selbsteigner Verfassung
gründete. Allein der Vater, auf den Wieder-
erwerb des in den Neckerschen Finanzoperationen
fast verlorenen Familienvermögens bedacht, wollte
ähnlichen Schwärmereien vorbeugen, als er den
Sohn dem angesehenen Genfer Kaufhaus Eynard
in Lyon zur Vorbereitung auf den Handelsberuf
übergab. Jean-Charles wurde hier bald mit
wirtschaftlichen und handelspolitischen Dingen be-
kannt, aber seine Ausbildung durch den Lyoner
Aufstand von 1792 jäh unterbrochen. Er flüchtete
nach Genf zurück, wo indes bei dem Einrücken der
Franzosen in Savoyen die Volkspartei die Re-
gierung gestürzt hatte, und wo er seinen Vater im
Gefängnis und das Vermögen der Familie be-
schlagnahmt fand. Die Flucht nach England
(für fast 2 Jahre), die Ausbildung in der Sprache,
die Einsicht in die dortigen politischen und wirt-
schaftlichen Zustände erwiesen sich zwar zeitlebens
für Weiterbildung seiner Anschauungen von hoher
Bedeutung, allein er mußte auch England bei der
Sismondi.
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Kargheit seiner Mittel zu schnell verlassen, und da
er bei seiner Rückkehr nach Genf als „verdächtig“
gefangen gesetzt wurde, blieb ihm und seiner Fa-
milie nur, um sich zu retten, das Exil übrig. Er
wählte Italien, und zwar das toskanische
Pesciagebiet, wo die Familie in Nievoletal ein
kleines, aber ertragreiches Gütchen zur Selbst-
bewirtschaftung erwarb. Aber auch hier, wo Jean-
Charles seit Jahren zum erstenmal in ruhigen
systematischen Studien zumeist über Agrarwirt=
schaft aufatmete, war seines Bleibens nicht, da
die toskanische Bevölkerung, beim Einbruch der
Franzosen in Italien aufs tiefste beunruhigt, die
Fremden, auch die Genevrini aus dem Nievole-
tal vertrieb und nur die nochmalige Rücklehr
nach Genf offen blieb. Hier waren unterdessen
seit dem Erlaß der Verfassung von 1796 ruhigere
Zustände eingekehrt, die auch infolge der durch
Frankreich (26. März 1798) bewirkten Trennung
Genfs von der schweizerischen Eidgenossenschaft
und der Erhebung Genfs zur Hauptstadt des
Departements Leman der Rückkehr der früheren
Anarchie vorbeugten.
Das bis auf den geringen Rest von 4000 Franken
Einkommen für eine zahlreiche Familie geschwun-
dene Vermögen zwang Jean-Charles zu litera-
rischer Arbeit. In emsigen Studien und großer
Zurückgezogenheit stellte er zuerst die mit jugend-
lichem Feuer ausgemalten Beobachtungen über
das Wirtschaftsleben in Toskana zu-
sammen, pries das Land, seine Einrichtungen,
sein Klima, seinen Boden, vergaß aber nicht, für
das auch dort sich zeigende Elend die öffentlichen
Einrichtungen anzuklagen. Die Schrift Tableau
de T’agriculture toscane (Genf 1801; deutsch
Tübingen 1805) hatte die Aufmerksamkeit der
wirtschaftlichen Welt auf ihn hingelenkt, als er
1803 gleichzeitig mit J.-B. Says Angriffen auf
die Physiokratie mit der zweibändigen Schrift
über den Handelsreichtum: De la Richesse com-
merciale ou Principes d’économie politique
appliquce à la législation du commerce (Genf;
deutsch Wien 1811), in die entstehende Wirt-
schaftsbewegung eingriff. Er stellte sich auf den
Standpunkt Ad. Smiths, tadelte dessen Mangel
an Methode und bezeichnete es als seine Aufgabe,
die Smithschen „so wenig verstandenen Lehren für
die Regierungen“ beachtenswerter zu machen, na-
mentlich für Frankreich und dessen Gesetzgebung,
als deren Hauptaufgabe er „die Verhinderung der
Einführung von Monopolen“ bezeichnete, während
er zugleich die Einmischung des Gesetzgebers in
alle den Austausch des Reichtums betreffenden
Fragen als verderblich zurückwies. Das Buch
erregte Aufsehen, und Kaiser Alexander von Ruß-
land ließ Sismondi durch den Grafen Plattner
die Professur für politische Okonomie an der Uni-
versität Wilna anbieten. Sismondi war als Han-
delskammersekretär des Departements Léman (seit
1800) französischer Bürger geworden und wollte
seine Familie um so weniger verlassen, als er in