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rufsklassen die Forderung des sozialistischen
Klassenkampfs.
Lange bevor die Vertreter des „sozialen König-
tums“ unserer Tage ihre Theorien ausstellten,
hatte Sismondi in der Charakterisierung der so-
zialen Aufgabe des modernen Staats
sie in seiner Weise sich zurecht gelegt. „Die Ge-
rechtigkeit“, sagt er, „das größte aller Güter, steht
mit dem privaten Interesse eines jeden im Gegen-
satz; denn dieses Interesse würde immer lehren,
das Gut des Nächsten sich anzueignen. Die Na-
tionalökonomie, der Ausdruck der sozialen Wissen-
schaften, lehrt, das Interesse aller darin zu unter-
scheiden, daß keiner durch Arbeit überangestrengt
werde, keiner der Belohnung verlustig gehe, nach
dem Interesse eines jeden auch alle Vorteile der
Arbeit ihm zu verschaffen, indem man das mög-
liche aus ihr macht, müßte man sie auch zu dem
möglich niedrigsten Preis verrichten. Die Auf-
gabe der Regierung als der Schützerin der Bevöl-
kerung besteht demnach darin, überall dem Opfer
Grenzen zu setzen, welches jeder aus sich selbst zu
bringen gezwungen werden könnte“ (ogl. Nou-
veaux principes d’'économie politique (2. Aus-
gabe 1827I]VII, c.8 u. 9, II 336ff). Damit glaubt
er das Eingreifen des Staats in den materiellen
Interessenkampf zugunsten eines dieser Interessen
im Namen der Gerechtigkeit gerechtfertigt zu haben.
Sismondi ging noch einen Schritt weiter.
Auf den „neuen Prinzipien“ der National-
ökonomie baute er ein neues System der Be-
ziehungen zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern auf: er setzte an die Stelle
des freien Arbeitsvertrags eine Art Garantie-
vertrag für die Rechte des Arbeiters gegenüber
dem, der ihn beschäftigt. Aus der Annahme, die
Arbeiterklasse sei für den Unternehmer da, folgerte
er für letzteren die Pflicht, für die Bedürfnisse der
ersteren auch über den Lohn hinaus aufzukommen.
In der Anwendung dieser These auf die Acker-
bauarbeiter verlangte Sismondi deren gänzlichen
Unterhalt von dem Großgrundbesitzer oder Groß-
pächter unter Ausschluß aller anderweitigen Ar-
beiterbevölkerung der Industrie; letztere solle den
wiederhergestellten gewerblichen Korporationen für
den Bereich ihrer Gewerke zugeteilt werden. Sis-
mondi erwartete von dieser Neuorganisation das
Verschwinden des Pauperismus, der aus der
Ülberfüllung des Produktenmarkts folgenden Han-
delskrisen und der Arbeitsstockungen; das Profit-
system der Industriellen, welches sich auf die Ver-
teuerung der Preise für die Konsumenten und die
Verbilligung der Löhne für die Arbeiter, also auf
die Schädigung allgemeiner Gesellschaftsinteressen
gründe, werde durch die Strenge der gesetzlichen
Unterhaltungspflicht gegenüber den Arbeitern ge-
brochen, und das sei strikte Gerechtigkeit. „Denn“,
sagt Sismondi (Nouveaux principes VlI,c. 9P,
362), „heute zieht der Unternehmer aus dem Leben
des Menschen einen Gewinn, während er alle
Schäden, die hierdurch erwachsen, auf die Gesell-
Sismondi.
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schaft abladet. Wofern die gezahlten Löhne aus-
reichen, wenn der Unternehmer nicht allein für das
Mannesalter der Arbeiter, sondern auch für ihre
Kindheit, ihre alten Tage und ihre Krankheiten
sorgt, wenn die aufgetragene Arbeit nicht gesund-
heitswidrig ist, wenn die maschinellen Neuerfin-
dungen nur der Bewältigung größerer Arbeiten
dienen, wird die Veranjwortlichkeit des Unter-
nehmers keine Last und kein Grund zur Klage
sein. Wenn diese Last eine drückende wird, so ist
seine Industrie nur eine schädliche, auf die zu ver-
zichten besser ist als aus ihr ein Mittel zum Ver-
derben der Gesellschaft zu machen.“ Ob Sis-
mondi sich der Konsequenzen seines Systems be-
wußt gewesen? Das ist genau die Denkweise und
Politik, bei der der Sozialismus durch den
Marxismus heute angelangt ist: Reglementierung
aller Produktion durch den Staat, darum Erobe-
rung der politischen Gewalt durch den Klassen-
kampf und ihre Ausbeutung für die wirtschaftlich-
soziale Umwälzung. An die Stelle der Arbeit-
gebergarantie tritt einfach die Staatsgarantie und
an die Stelle der Unternehmerstlaverei die Staats-
stlaverei mit der Vernichtung aller persönlichen
Unabhängigkeit; sowohl zum Schutz gegen die
Arbeitsversagung wie als peremtorische Forde-
rung der Selbsterhaltung bleibt kein anderer Weg.
Sismondi legt zu Ende seines Buchs förmliche
Verwahrung ein gegen die Verwechflung seiner
Ideen mit denen Owens und Fouriers. Er
schließt (Nouveaux principes VII, c. 9, 384)
mit den Worten: „Ich gestehe, nachdem ich an-
gedeutet, wo in meinen Augen das Prinzip der
Gerechtigkeit ist, daß ich in mir nicht mehr die
Kraft fühle, die Mittel und Wege der Ausfüh-
rung anzugeben.“ Klingt das nicht wie der Ruf
der Verzweiflung, mit dem der gesunde Menschen-
verstand gegen das Absurde dieser Okonomie sich
erhob!?
Sismondis Anschauungen von der Gesellschaft
und der Reglementierung der Arbeit verstoßen
gleich sehr gegen die beiden Grundlagen aller
Sozial= und Wirtschaftsordnung: er leugnet die
Freiheit und übertreibt die Autorität. Die
Wirtschaftsordnung einer jeden Gesellschaft ist
wesentlich ein Kollektivwerk, an dem alle gesell-
schaftlichen Organe, alle Kräfte derselben zu dem
gemeinsamen Zweck der sittlichen Vervollkomm=
nung des Menschen für dessen letzte und höchste
Ziele verbunden sind. Das Eingreifen des Staats
zu diesem Ziel kann und darf aber so wenig be-
stritten werden wie die unerläßliche Betätigung
der Freiheit, beide in Unterordnung unter die von
der Vernunft und dem christlichen Sittengesetz ge-
botene Norm. Geschichtliche Entwicklung, beson-
dere Tatsachen, unvermeidliche Krisen im Staats-
und Volksleben, außerordentliche glückliche oder
unglückliche Umstände können die Grenzen des un-
erläßlichen Zusammenwirkens der beiden Grund-=
kräfte aller Ordnung verschieben, aber nie das
selbständige Zusammenwirken in der Sicherung