Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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rufsklassen die Forderung des sozialistischen 
Klassenkampfs. 
Lange bevor die Vertreter des „sozialen König- 
tums“ unserer Tage ihre Theorien ausstellten, 
hatte Sismondi in der Charakterisierung der so- 
zialen Aufgabe des modernen Staats 
sie in seiner Weise sich zurecht gelegt. „Die Ge- 
rechtigkeit“, sagt er, „das größte aller Güter, steht 
mit dem privaten Interesse eines jeden im Gegen- 
satz; denn dieses Interesse würde immer lehren, 
das Gut des Nächsten sich anzueignen. Die Na- 
tionalökonomie, der Ausdruck der sozialen Wissen- 
schaften, lehrt, das Interesse aller darin zu unter- 
scheiden, daß keiner durch Arbeit überangestrengt 
werde, keiner der Belohnung verlustig gehe, nach 
dem Interesse eines jeden auch alle Vorteile der 
Arbeit ihm zu verschaffen, indem man das mög- 
liche aus ihr macht, müßte man sie auch zu dem 
möglich niedrigsten Preis verrichten. Die Auf- 
gabe der Regierung als der Schützerin der Bevöl- 
kerung besteht demnach darin, überall dem Opfer 
Grenzen zu setzen, welches jeder aus sich selbst zu 
bringen gezwungen werden könnte“ (ogl. Nou- 
veaux principes d’'économie politique (2. Aus- 
gabe 1827I]VII, c.8 u. 9, II 336ff). Damit glaubt 
er das Eingreifen des Staats in den materiellen 
Interessenkampf zugunsten eines dieser Interessen 
im Namen der Gerechtigkeit gerechtfertigt zu haben. 
Sismondi ging noch einen Schritt weiter. 
Auf den „neuen Prinzipien“ der National- 
ökonomie baute er ein neues System der Be- 
ziehungen zwischen Arbeitgebern und 
Arbeitnehmern auf: er setzte an die Stelle 
des freien Arbeitsvertrags eine Art Garantie- 
vertrag für die Rechte des Arbeiters gegenüber 
dem, der ihn beschäftigt. Aus der Annahme, die 
Arbeiterklasse sei für den Unternehmer da, folgerte 
er für letzteren die Pflicht, für die Bedürfnisse der 
ersteren auch über den Lohn hinaus aufzukommen. 
In der Anwendung dieser These auf die Acker- 
bauarbeiter verlangte Sismondi deren gänzlichen 
Unterhalt von dem Großgrundbesitzer oder Groß- 
pächter unter Ausschluß aller anderweitigen Ar- 
beiterbevölkerung der Industrie; letztere solle den 
wiederhergestellten gewerblichen Korporationen für 
den Bereich ihrer Gewerke zugeteilt werden. Sis- 
mondi erwartete von dieser Neuorganisation das 
Verschwinden des Pauperismus, der aus der 
Ülberfüllung des Produktenmarkts folgenden Han- 
delskrisen und der Arbeitsstockungen; das Profit- 
system der Industriellen, welches sich auf die Ver- 
teuerung der Preise für die Konsumenten und die 
Verbilligung der Löhne für die Arbeiter, also auf 
die Schädigung allgemeiner Gesellschaftsinteressen 
gründe, werde durch die Strenge der gesetzlichen 
Unterhaltungspflicht gegenüber den Arbeitern ge- 
brochen, und das sei strikte Gerechtigkeit. „Denn“, 
sagt Sismondi (Nouveaux principes VlI,c. 9P, 
362), „heute zieht der Unternehmer aus dem Leben 
des Menschen einen Gewinn, während er alle 
Schäden, die hierdurch erwachsen, auf die Gesell- 
Sismondi. 
  
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schaft abladet. Wofern die gezahlten Löhne aus- 
reichen, wenn der Unternehmer nicht allein für das 
Mannesalter der Arbeiter, sondern auch für ihre 
Kindheit, ihre alten Tage und ihre Krankheiten 
sorgt, wenn die aufgetragene Arbeit nicht gesund- 
heitswidrig ist, wenn die maschinellen Neuerfin- 
dungen nur der Bewältigung größerer Arbeiten 
dienen, wird die Veranjwortlichkeit des Unter- 
nehmers keine Last und kein Grund zur Klage 
sein. Wenn diese Last eine drückende wird, so ist 
seine Industrie nur eine schädliche, auf die zu ver- 
zichten besser ist als aus ihr ein Mittel zum Ver- 
derben der Gesellschaft zu machen.“ Ob Sis- 
mondi sich der Konsequenzen seines Systems be- 
wußt gewesen? Das ist genau die Denkweise und 
Politik, bei der der Sozialismus durch den 
Marxismus heute angelangt ist: Reglementierung 
aller Produktion durch den Staat, darum Erobe- 
rung der politischen Gewalt durch den Klassen- 
kampf und ihre Ausbeutung für die wirtschaftlich- 
soziale Umwälzung. An die Stelle der Arbeit- 
gebergarantie tritt einfach die Staatsgarantie und 
an die Stelle der Unternehmerstlaverei die Staats- 
stlaverei mit der Vernichtung aller persönlichen 
Unabhängigkeit; sowohl zum Schutz gegen die 
Arbeitsversagung wie als peremtorische Forde- 
rung der Selbsterhaltung bleibt kein anderer Weg. 
Sismondi legt zu Ende seines Buchs förmliche 
Verwahrung ein gegen die Verwechflung seiner 
Ideen mit denen Owens und Fouriers. Er 
schließt (Nouveaux principes VII, c. 9, 384) 
mit den Worten: „Ich gestehe, nachdem ich an- 
gedeutet, wo in meinen Augen das Prinzip der 
Gerechtigkeit ist, daß ich in mir nicht mehr die 
Kraft fühle, die Mittel und Wege der Ausfüh- 
rung anzugeben.“ Klingt das nicht wie der Ruf 
der Verzweiflung, mit dem der gesunde Menschen- 
verstand gegen das Absurde dieser Okonomie sich 
erhob!? 
Sismondis Anschauungen von der Gesellschaft 
und der Reglementierung der Arbeit verstoßen 
gleich sehr gegen die beiden Grundlagen aller 
Sozial= und Wirtschaftsordnung: er leugnet die 
Freiheit und übertreibt die Autorität. Die 
Wirtschaftsordnung einer jeden Gesellschaft ist 
wesentlich ein Kollektivwerk, an dem alle gesell- 
schaftlichen Organe, alle Kräfte derselben zu dem 
gemeinsamen Zweck der sittlichen Vervollkomm= 
nung des Menschen für dessen letzte und höchste 
Ziele verbunden sind. Das Eingreifen des Staats 
zu diesem Ziel kann und darf aber so wenig be- 
stritten werden wie die unerläßliche Betätigung 
der Freiheit, beide in Unterordnung unter die von 
der Vernunft und dem christlichen Sittengesetz ge- 
botene Norm. Geschichtliche Entwicklung, beson- 
dere Tatsachen, unvermeidliche Krisen im Staats- 
und Volksleben, außerordentliche glückliche oder 
unglückliche Umstände können die Grenzen des un- 
erläßlichen Zusammenwirkens der beiden Grund-= 
kräfte aller Ordnung verschieben, aber nie das 
selbständige Zusammenwirken in der Sicherung
	        
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