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auf äußere positive Ursachen zurück. Es sind die
sog. Moralpositivisten, die behaupten, es gebe
keinen natürlichen Unterschied von gut und
bös, dieser Unterschied beruhe bloß auf freier, po-
sitiver Einsetzung. In der näheren Bestimmung
der Ursache weichen sie voneinander ab, indem
die einen den letzten Grund des Unterschieds zwi-
schen gut und bös in irgend einer Veranstaltung
der Menschen (anthroponomer Moralpositivis-
mus), die andern in der freien Bestimmung
Gottes (theonomer Moralpositivismus) erblicken.
a) Der anthroponome Moralpositi-
vismus oder richtiger der Moralskeptizis=
mus genannt, weil er nichts als allgemein gut
oder bös anerkennt, hat schon in der antik-griechi-
schen Philosophie Vertreter gefunden und ist unter
den Neuern zuerst von Mich. Montaigne (1533
bis 1592), der das Dasein allgemein gültiger
sittlicher Grundsätze geleugnet, und namentlich von
Th. Hobbes (1588/1679) eingehend und syste-
matisch behandelt worden. Ausgehend von der
aristotelischen Begriffsbestimmung: Gut ist, was
alle begehren, kommt er zum Schluß, das Gute
sei nur ein relativer Begriff, der sich nach der
Verschiedenheit der Begehrenden ändere. Denn
das Urteil über das, was gut und bös sei, hänge
von der subjektiven Auffassung und Anlage des
einzelnen ab. Daher könne dasselbe Ding dem
einen gut, dem andern ein Übel sein. Es gibt also
keinen von Natur aus allgemein gültigen Maß-
stab zur Unterscheidung des Guten und Bösen.
Erst die Gesetze des Staats können einen
solchen allgemeinen Maßstab abgeben. Was das
Staatsgesetz gebietet, sei gut, was es verbietet, sei
bös oder sittlich schlecht. Was daher in einem
Staat gut sei, könne in einem andern schlecht sein
und umgekehrt. Wie Hobbes, läßt auch J.-J.
Rousseau (1712/78) die Begriffe von gut und
bös, Recht und Unrecht mit dem Staat und durch
den Staat entstehen. Saint-Lambert (1717/1808)
ist derselben Meinung, nur substituiert er dem
Staatsgesetz die öffentliche Meinung, und
nach B. Mandeville (1670/1733) ist das sittlich
Gute und Böse nur eine Erfindung einfluß-
reicher Männer, denen es gelang, der Menge die
Überzeugung beizubringen, daß es für jeden gut
sei, das allgemeine Wohl dem eignen vorzuziehen.
Nach den modernen Evolutionisten (z. B.
H. Spencer, E. Laas, E. Haeckel) sind die Be-
griffe von gut und bös Erzeugnisse des mensch-
lichen Gesellschaftslebens. Die Philosophen des
Sozialismus (K. Marx, Fr. Engels, A. Be-
bel u. a.) erklären sich für die Verschiebung der
Grenzen zwischen gut und bös je nach dem Zeit-
alter und dem Stadium der menschlichen Entwick-
lung, denn „die jedesmalige ökonomische Struktur
der Gesellschaft bildet die reale Grundlage, aus
der der gesamte Überbau der rechtlichen und poli-
tischen sowie der religiösen, philosophischen und
sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschicht-
lichen Zeitabschnitts in letzter Instanz zu erklären
Sittliche Ordnung.
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sind“ (Engels, Die Entwicklung des Sozialismus
(18911 25). Noch weitherziger ist Fr. Paulsen
#190), indem er nicht nur jedem Volk, sondern
auch jedem Stand und Geschlecht, ja jedem ein-
zelnen Menschen einen eignen Unterschied zwischen
gut und bös gewahrt wissen will: was für den
einen Menschen sittlich gut ist, könne für den an-
dern schlecht und bös sein. Nach Fr. Nietzsche
(119V00) war die Unterscheidung zwischen gut und
bös im moralischen Sinn ursprünglich unbekannt.
Was der Stärkere tat, mochte es nach den jetzigen
Begriffen auch noch so schlecht und verbrecherisch
sein, das war gut; was dagegen das unterdrückte
Volk tat, war schlecht. Erst in späteren Zeiten be-
gannen die Unterdrückten aus purem Haß gegen
ihre Unterdrücker das Gebaren derselben als etwas
sittlich Schlechtes und ihre eigne Handlungsweise
als sittlich gut zu bezeichnen. Eine solche Unter-
scheidung hat natürlich gar keinen Wert; für die
geistig Starken und Vornehmen gibt es auch heute
weder Gutes noch Schlechtes im moralischen Sinn.
Der „Übermensch“ steht jenseits von gut und bös.
Ebenso ungescheut wie Nietzsche vertrat den Mo-
ralskeptizismus oder richtiger den Moralnihilis=
mus Kaspar Schmidt (1806/56), der unter dem
Pfeudonym Max Stirner (Der Einzige und
sein Eigentum [1845, 1901) bekannt ist.
Der Moralskeptizismus wird jedoch als unhalt-
bar erwiesen allein schon durch die ganz unleugbare,
durch alle ethnologischen Untersuchungen bis zur
Evidenz nachgewiesene Tatsache, daß allgemein alle
Menschen einen Unterschied zwischen gut und bös,
zwischen Tugend und Laster machen. Und zwar
beschränkt sich diese allgemein übliche Unterschei-
dung nicht auf gute und böse Handlungen im all-
gemeinen, sondern erstreckt sich auf ganz bestimmte
Handlungen, von denen die einen immer und
überall als gut, die andern ebenso allgemein als
bös angesehen werden. So gelten z. B. Gottes-
verehrung, Elternliebe, Wahrhaftigkeit, Vater-
landsliebe bei allen, auch den am tiefsten stehenden
Naturvölkern aller Zeiten als etwas sittlich Gutes
und Lobenswertes, während Gotteslästerung, Miß-
handlung der Eltern, Verlogenheit oder Landes-
verrat immer und überall als etwas Schlechtes
und Tadelnswertes angesehen werden. Wie ließe
sich diese Tatsache erklären, wenn der Unterschied
zwischen gut und bös eine bloße Erfindung oder
frei gewollte Einrichtung der Menschen wäre?
Wollte man aber antworten, Handlungen wie die
genannten seien durch die Gesetze und Gewohn-
heiten aller Völker gefordert bzw. verboten und
deshalb allgemein für sittlich gut bzw. schlecht an-
gesehen worden, so entsteht sofort die weitere
Frage: Wie kommt es denn, daß in der Beurtei-
lung jener Handlungen die Gesetze und Gewohn-
heiten aller Völker so auffallend übereinstimmen,
und daß diese Ubereinstimmung Jahrtausende hin-
durch bestehen konnte, obgleich die Gesetze und Ge-
wohnheiten der Völker einem beständigen Wechsel
unterworfen waren? Zwar können viele sittliche