Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1141 
auf äußere positive Ursachen zurück. Es sind die 
sog. Moralpositivisten, die behaupten, es gebe 
keinen natürlichen Unterschied von gut und 
bös, dieser Unterschied beruhe bloß auf freier, po- 
sitiver Einsetzung. In der näheren Bestimmung 
der Ursache weichen sie voneinander ab, indem 
die einen den letzten Grund des Unterschieds zwi- 
schen gut und bös in irgend einer Veranstaltung 
der Menschen (anthroponomer Moralpositivis- 
mus), die andern in der freien Bestimmung 
Gottes (theonomer Moralpositivismus) erblicken. 
a) Der anthroponome Moralpositi- 
vismus oder richtiger der Moralskeptizis= 
mus genannt, weil er nichts als allgemein gut 
oder bös anerkennt, hat schon in der antik-griechi- 
schen Philosophie Vertreter gefunden und ist unter 
den Neuern zuerst von Mich. Montaigne (1533 
bis 1592), der das Dasein allgemein gültiger 
sittlicher Grundsätze geleugnet, und namentlich von 
Th. Hobbes (1588/1679) eingehend und syste- 
matisch behandelt worden. Ausgehend von der 
aristotelischen Begriffsbestimmung: Gut ist, was 
alle begehren, kommt er zum Schluß, das Gute 
sei nur ein relativer Begriff, der sich nach der 
Verschiedenheit der Begehrenden ändere. Denn 
das Urteil über das, was gut und bös sei, hänge 
von der subjektiven Auffassung und Anlage des 
einzelnen ab. Daher könne dasselbe Ding dem 
einen gut, dem andern ein Übel sein. Es gibt also 
keinen von Natur aus allgemein gültigen Maß- 
stab zur Unterscheidung des Guten und Bösen. 
Erst die Gesetze des Staats können einen 
solchen allgemeinen Maßstab abgeben. Was das 
Staatsgesetz gebietet, sei gut, was es verbietet, sei 
bös oder sittlich schlecht. Was daher in einem 
Staat gut sei, könne in einem andern schlecht sein 
und umgekehrt. Wie Hobbes, läßt auch J.-J. 
Rousseau (1712/78) die Begriffe von gut und 
bös, Recht und Unrecht mit dem Staat und durch 
den Staat entstehen. Saint-Lambert (1717/1808) 
ist derselben Meinung, nur substituiert er dem 
Staatsgesetz die öffentliche Meinung, und 
nach B. Mandeville (1670/1733) ist das sittlich 
Gute und Böse nur eine Erfindung einfluß- 
reicher Männer, denen es gelang, der Menge die 
Überzeugung beizubringen, daß es für jeden gut 
sei, das allgemeine Wohl dem eignen vorzuziehen. 
Nach den modernen Evolutionisten (z. B. 
H. Spencer, E. Laas, E. Haeckel) sind die Be- 
griffe von gut und bös Erzeugnisse des mensch- 
lichen Gesellschaftslebens. Die Philosophen des 
Sozialismus (K. Marx, Fr. Engels, A. Be- 
bel u. a.) erklären sich für die Verschiebung der 
Grenzen zwischen gut und bös je nach dem Zeit- 
alter und dem Stadium der menschlichen Entwick- 
lung, denn „die jedesmalige ökonomische Struktur 
der Gesellschaft bildet die reale Grundlage, aus 
der der gesamte Überbau der rechtlichen und poli- 
tischen sowie der religiösen, philosophischen und 
sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschicht- 
lichen Zeitabschnitts in letzter Instanz zu erklären 
Sittliche Ordnung. 
  
1142 
sind“ (Engels, Die Entwicklung des Sozialismus 
(18911 25). Noch weitherziger ist Fr. Paulsen 
#190), indem er nicht nur jedem Volk, sondern 
auch jedem Stand und Geschlecht, ja jedem ein- 
zelnen Menschen einen eignen Unterschied zwischen 
gut und bös gewahrt wissen will: was für den 
einen Menschen sittlich gut ist, könne für den an- 
dern schlecht und bös sein. Nach Fr. Nietzsche 
(119V00) war die Unterscheidung zwischen gut und 
bös im moralischen Sinn ursprünglich unbekannt. 
Was der Stärkere tat, mochte es nach den jetzigen 
Begriffen auch noch so schlecht und verbrecherisch 
sein, das war gut; was dagegen das unterdrückte 
Volk tat, war schlecht. Erst in späteren Zeiten be- 
gannen die Unterdrückten aus purem Haß gegen 
ihre Unterdrücker das Gebaren derselben als etwas 
sittlich Schlechtes und ihre eigne Handlungsweise 
als sittlich gut zu bezeichnen. Eine solche Unter- 
scheidung hat natürlich gar keinen Wert; für die 
geistig Starken und Vornehmen gibt es auch heute 
weder Gutes noch Schlechtes im moralischen Sinn. 
Der „Übermensch“ steht jenseits von gut und bös. 
Ebenso ungescheut wie Nietzsche vertrat den Mo- 
ralskeptizismus oder richtiger den Moralnihilis= 
mus Kaspar Schmidt (1806/56), der unter dem 
Pfeudonym Max Stirner (Der Einzige und 
sein Eigentum [1845, 1901) bekannt ist. 
Der Moralskeptizismus wird jedoch als unhalt- 
bar erwiesen allein schon durch die ganz unleugbare, 
durch alle ethnologischen Untersuchungen bis zur 
Evidenz nachgewiesene Tatsache, daß allgemein alle 
Menschen einen Unterschied zwischen gut und bös, 
zwischen Tugend und Laster machen. Und zwar 
beschränkt sich diese allgemein übliche Unterschei- 
dung nicht auf gute und böse Handlungen im all- 
gemeinen, sondern erstreckt sich auf ganz bestimmte 
Handlungen, von denen die einen immer und 
überall als gut, die andern ebenso allgemein als 
bös angesehen werden. So gelten z. B. Gottes- 
verehrung, Elternliebe, Wahrhaftigkeit, Vater- 
landsliebe bei allen, auch den am tiefsten stehenden 
Naturvölkern aller Zeiten als etwas sittlich Gutes 
und Lobenswertes, während Gotteslästerung, Miß- 
handlung der Eltern, Verlogenheit oder Landes- 
verrat immer und überall als etwas Schlechtes 
und Tadelnswertes angesehen werden. Wie ließe 
sich diese Tatsache erklären, wenn der Unterschied 
zwischen gut und bös eine bloße Erfindung oder 
frei gewollte Einrichtung der Menschen wäre? 
Wollte man aber antworten, Handlungen wie die 
genannten seien durch die Gesetze und Gewohn- 
heiten aller Völker gefordert bzw. verboten und 
deshalb allgemein für sittlich gut bzw. schlecht an- 
gesehen worden, so entsteht sofort die weitere 
Frage: Wie kommt es denn, daß in der Beurtei- 
lung jener Handlungen die Gesetze und Gewohn- 
heiten aller Völker so auffallend übereinstimmen, 
und daß diese Ubereinstimmung Jahrtausende hin- 
durch bestehen konnte, obgleich die Gesetze und Ge- 
wohnheiten der Völker einem beständigen Wechsel 
unterworfen waren? Zwar können viele sittliche
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.