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Forderungen im einzelnen sehr verschieden sein,
aber die sittliche Ordnung oder die Moral besteht
zunächst nicht in diesen konkreten Forderungen,
sondern in den allgemeinen ethischen
Grundsätzen. Da nun gerade diese tatsächlich
immer und überall gelten und von Zeit, Ort und
Umständen unabhängig sind, so können sie nicht
auf den freien Willen der Menschen zurückgeführt
werden.
Die Unhaltbarkeit des Moralskeptizismus ergibt
sich sodann mit Notwendigkeit aus seinen ver-
nunftwidrigen Folgerungen. Beruht
der Unterschied zwischen gut und bös auf mensch-
licher Veranstaltung, dann ist jedes Gesetz und
jede Gewohnheit sittlich gut, mögen sie noch so
unsinnig oder vernunftwidrig sein. Handlungen,
die jedermann als sittlich schlecht verurteilt, wie
Mord, Diebstahl, Meineid, Blutschande, würden
aufhören, schlecht zu sein, sobald sie durch das
menschliche Gesetz nicht mehr verboten wären, und
fingen an, gut zu sein, wenn sie zur Gewohnheit
würden. Noch mehr, ein sittlich schlechtes Gesetz
wäre von vornherein unmöglich, denn sittlich schlecht
kann ein Gesetz nur unter der Bedingung sein, daß
es gegen eine Sittennorm verstößt, die über dem
Gesetz steht. Endlich wäre überhaupt eine Ethik
oder Moralphilosophie unmöglich, wenn es kein
für alle Zeiten und Menschen gültiges Sitt-
liche gebe.
b) Der theonome Moralpositivismus
leitet den Unterschied zwischen gut und bös von
dem freien Willen Gottes ab. Seine bedeuten-
deren Vertreter sind Wilh. v. Occam (7 ca 1349),
Joh. Gerson (7 1429), R. Descartes (1 1650)
und Sam. Pufendorf (1632/94), der das Gesetz
als die höchste Norm des Sittlichen ansah, und da
das Gesetz vom Willen Gottes abhängt, in diesem
den letzten Grund der Unterscheidung zwischen gut
und bös erblickte.
Diese Auffassung von der sittlichen Ordnung
ist sicher gut gemeint, denn ihre Vertreter glauben,
es würde der Vollkommenheit Gottes Eintrag tun,
wenn man nicht die ganze Moral von dem freien
göttlichen Willen abhängig mache. Allein auch sie
hat ihre tiefste Quelle im Skeptizismus. Nach ihr
hätten die Sittengesetze nicht in sich selbst ihre
Berechtigung, wären nicht in sich selber vernünftig
und gut, sondern nur deshalb, weil gerade in
ihnen Gott seinen Willen ausgedrückt hat. Gott
hätte also, das ist die notwendige Folgerung, auch
ein anderes Sittengesetz geben und das, was er
verboten, erlauben oder gebieten können. Nach
dieser Theorie ist es unmöglich, einen vollen,
spekulativen Begriff von der göttlichen Willens-
freiheit zu gewinnen; es lassen sich keine im gött-
lichen Wesen, in Gottes Erkenntnis und Weisheit
liegenden Gesetze erkennen, durch die der göttliche
Schöpferwille geordnet würde; wir erreichen
keine andere Erkenntnis von dem göttlichen Willen,
als daß er absolut frei sei, durch nichts beschränkt
und determiniert werde, also auch nicht durch
Sittliche Ordnung.
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Gottes eigne Weisheit, Güte und Heiligkeit; es
lassen sich also auch keine Zwecke des göttlichen
Willens erkennen. Darum gibt es auch für unsere
Erkenntnis keine immanente Gesetzmäßigkeit weder
in der physischen noch in der ethischen Welt. Die
Gesetze der sittlichen Welt sind willkürliche; es gibt
für sie keine Gründe im Wesen Gottes selbst; eine
Handlung ist nicht deshalb sittlich gut, weil sie in
innerer Harmonie steht mit dem moralischen Wesen
des Menschen und mit dem in ihm sich offenbarenden
Willen Gottes, sondern sie ist nur gut, sofern sie als
ein Akt des Gehorsams akzeptiert wird. Diese Theo-
rie entspringt somit nicht bloß aus einer mangel-
haften Vorstellung von dem Wesen Gottes, sondern
schädigt auch die Idee des Sittengesetzes. Denn
von ihr aus gäbe es keine vernünftige Unter-
werfung unter den göttlichen Willen (Röm. 12, 1:
rationabile obsequium), sondern nur ein blin-
des, unverstandenes Gehorchen, kein vernünftiges,
sondern ein planloses, unzusammenhängendes Han-
deln, und von einer freien, geistigen Auffassung
des Gesetzes im Unterschied von dem Buchstaben-
dienst könnte keine Rede mehr sein. Daß manche
Handlungen, z. B. knechtliche Arbeiten an Sonn-
und Festtagen, nicht ihrer Natur nach, sondern
bloß deshalb böse sind, weil sie von der recht-
mäßigen Obrigkeit untersagt wurden, ist ohne
weiteres zuzugeben. Aber daraus folgt nicht, daß
es nicht auch andere Handlungen gibt, die schon
aus sich und ihrer Natur nach, also abgesehen
von einem göttlichen Verbot, irgendwie bös sind.
Die Lehre der Moralpositivisten ist somit in jeder
Form als unbegründet abzuweisen. Es muß also
eine objektive, unveränderliche, über alle Zeiten
und Orte erhabene, nicht nur von dem Willen
der Menschen, sondern auch von dem freien Willen
Gottes irgendwie unabhängige Richtschnur des
sittlich Guten und Bösen geben.
2. Eudämonismus oder Utilitaris-
mus. Eudämonisten werden jene Moralphilo-
sophen genannt, die das irdische Glück für den
höchsten Zweck des Menschen halten. Alle Hand-
lungen, die diesem Zweck dienen, gelten ihnen als
sittlich gut, alle andern als sittlich schlecht. Unter
irdischem Glück verstehen manche ausschließlich
oder doch vorzugsweise die sinnliche Lust (Hedo-
nismus oder Lustphilosophie), so im Altertum
Aristippus (##ca 360 v. Chr.), in neuerer Zeit
Cl. Adrian Helvetius (1715/71) und Julien Of-
froy de la Mettrie (1709/51). Andere dehnen den
Begriff des irdischen Glücks auf das gesamte Le-
bensglück aus und nennen jene Handlungen sitt-
lich gut, die dem „wohlverstandenen Selbstinter-
esse“ Rechnung tragen. Zu diesen zählen Demokrit
(um 430/370 v. Chr.), Epikur (71 270 v. Chr.),
Peter Gassendi (1592/1655), Spinoza (1632
bis 1677). Hauptrepräsentant dieser Lehre ist in
England Jeremias Bentham (1747/1832) und
in Deutschland Ludwig Andreas Feuerbach
(1804/72). Letzterer äußert sich dahin, jede gute
Mahlzeit, die den einen befriedigt, ohne dem an-