Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Forderungen im einzelnen sehr verschieden sein, 
aber die sittliche Ordnung oder die Moral besteht 
zunächst nicht in diesen konkreten Forderungen, 
sondern in den allgemeinen ethischen 
Grundsätzen. Da nun gerade diese tatsächlich 
immer und überall gelten und von Zeit, Ort und 
Umständen unabhängig sind, so können sie nicht 
auf den freien Willen der Menschen zurückgeführt 
werden. 
Die Unhaltbarkeit des Moralskeptizismus ergibt 
sich sodann mit Notwendigkeit aus seinen ver- 
nunftwidrigen Folgerungen. Beruht 
der Unterschied zwischen gut und bös auf mensch- 
licher Veranstaltung, dann ist jedes Gesetz und 
jede Gewohnheit sittlich gut, mögen sie noch so 
unsinnig oder vernunftwidrig sein. Handlungen, 
die jedermann als sittlich schlecht verurteilt, wie 
Mord, Diebstahl, Meineid, Blutschande, würden 
aufhören, schlecht zu sein, sobald sie durch das 
menschliche Gesetz nicht mehr verboten wären, und 
fingen an, gut zu sein, wenn sie zur Gewohnheit 
würden. Noch mehr, ein sittlich schlechtes Gesetz 
wäre von vornherein unmöglich, denn sittlich schlecht 
kann ein Gesetz nur unter der Bedingung sein, daß 
es gegen eine Sittennorm verstößt, die über dem 
Gesetz steht. Endlich wäre überhaupt eine Ethik 
oder Moralphilosophie unmöglich, wenn es kein 
für alle Zeiten und Menschen gültiges Sitt- 
liche gebe. 
b) Der theonome Moralpositivismus 
leitet den Unterschied zwischen gut und bös von 
dem freien Willen Gottes ab. Seine bedeuten- 
deren Vertreter sind Wilh. v. Occam (7 ca 1349), 
Joh. Gerson (7 1429), R. Descartes (1 1650) 
und Sam. Pufendorf (1632/94), der das Gesetz 
als die höchste Norm des Sittlichen ansah, und da 
das Gesetz vom Willen Gottes abhängt, in diesem 
den letzten Grund der Unterscheidung zwischen gut 
und bös erblickte. 
Diese Auffassung von der sittlichen Ordnung 
ist sicher gut gemeint, denn ihre Vertreter glauben, 
es würde der Vollkommenheit Gottes Eintrag tun, 
wenn man nicht die ganze Moral von dem freien 
göttlichen Willen abhängig mache. Allein auch sie 
hat ihre tiefste Quelle im Skeptizismus. Nach ihr 
hätten die Sittengesetze nicht in sich selbst ihre 
Berechtigung, wären nicht in sich selber vernünftig 
und gut, sondern nur deshalb, weil gerade in 
ihnen Gott seinen Willen ausgedrückt hat. Gott 
hätte also, das ist die notwendige Folgerung, auch 
ein anderes Sittengesetz geben und das, was er 
verboten, erlauben oder gebieten können. Nach 
dieser Theorie ist es unmöglich, einen vollen, 
spekulativen Begriff von der göttlichen Willens- 
  
freiheit zu gewinnen; es lassen sich keine im gött- 
lichen Wesen, in Gottes Erkenntnis und Weisheit 
liegenden Gesetze erkennen, durch die der göttliche 
Schöpferwille geordnet würde; wir erreichen 
keine andere Erkenntnis von dem göttlichen Willen, 
als daß er absolut frei sei, durch nichts beschränkt 
und determiniert werde, also auch nicht durch 
Sittliche Ordnung. 
  
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Gottes eigne Weisheit, Güte und Heiligkeit; es 
lassen sich also auch keine Zwecke des göttlichen 
Willens erkennen. Darum gibt es auch für unsere 
Erkenntnis keine immanente Gesetzmäßigkeit weder 
in der physischen noch in der ethischen Welt. Die 
Gesetze der sittlichen Welt sind willkürliche; es gibt 
für sie keine Gründe im Wesen Gottes selbst; eine 
Handlung ist nicht deshalb sittlich gut, weil sie in 
innerer Harmonie steht mit dem moralischen Wesen 
des Menschen und mit dem in ihm sich offenbarenden 
Willen Gottes, sondern sie ist nur gut, sofern sie als 
ein Akt des Gehorsams akzeptiert wird. Diese Theo- 
rie entspringt somit nicht bloß aus einer mangel- 
haften Vorstellung von dem Wesen Gottes, sondern 
schädigt auch die Idee des Sittengesetzes. Denn 
von ihr aus gäbe es keine vernünftige Unter- 
werfung unter den göttlichen Willen (Röm. 12, 1: 
rationabile obsequium), sondern nur ein blin- 
des, unverstandenes Gehorchen, kein vernünftiges, 
sondern ein planloses, unzusammenhängendes Han- 
deln, und von einer freien, geistigen Auffassung 
des Gesetzes im Unterschied von dem Buchstaben- 
dienst könnte keine Rede mehr sein. Daß manche 
Handlungen, z. B. knechtliche Arbeiten an Sonn- 
und Festtagen, nicht ihrer Natur nach, sondern 
bloß deshalb böse sind, weil sie von der recht- 
mäßigen Obrigkeit untersagt wurden, ist ohne 
weiteres zuzugeben. Aber daraus folgt nicht, daß 
es nicht auch andere Handlungen gibt, die schon 
aus sich und ihrer Natur nach, also abgesehen 
von einem göttlichen Verbot, irgendwie bös sind. 
Die Lehre der Moralpositivisten ist somit in jeder 
Form als unbegründet abzuweisen. Es muß also 
eine objektive, unveränderliche, über alle Zeiten 
und Orte erhabene, nicht nur von dem Willen 
der Menschen, sondern auch von dem freien Willen 
Gottes irgendwie unabhängige Richtschnur des 
sittlich Guten und Bösen geben. 
2. Eudämonismus oder Utilitaris- 
mus. Eudämonisten werden jene Moralphilo- 
sophen genannt, die das irdische Glück für den 
höchsten Zweck des Menschen halten. Alle Hand- 
lungen, die diesem Zweck dienen, gelten ihnen als 
sittlich gut, alle andern als sittlich schlecht. Unter 
irdischem Glück verstehen manche ausschließlich 
oder doch vorzugsweise die sinnliche Lust (Hedo- 
nismus oder Lustphilosophie), so im Altertum 
Aristippus (##ca 360 v. Chr.), in neuerer Zeit 
Cl. Adrian Helvetius (1715/71) und Julien Of- 
froy de la Mettrie (1709/51). Andere dehnen den 
Begriff des irdischen Glücks auf das gesamte Le- 
bensglück aus und nennen jene Handlungen sitt- 
lich gut, die dem „wohlverstandenen Selbstinter- 
esse“ Rechnung tragen. Zu diesen zählen Demokrit 
(um 430/370 v. Chr.), Epikur (71 270 v. Chr.), 
Peter Gassendi (1592/1655), Spinoza (1632 
bis 1677). Hauptrepräsentant dieser Lehre ist in 
England Jeremias Bentham (1747/1832) und 
in Deutschland Ludwig Andreas Feuerbach 
(1804/72). Letzterer äußert sich dahin, jede gute 
Mahlzeit, die den einen befriedigt, ohne dem an-
	        
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