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eine Last sind, erbarmungslos aus der Welt zu
schaffen.
3. Progressismus oder Kulturfort-
schritt. An die Stelle des „größtmöglichen
Glücks der größtmöglichen Zahl“ setzen Neuere
das Prinzip des Kulturfortschritts als das
oberste Ziel und Maß des Sittlichen. Die Kultur-
entwicklung ist den Progressisten nicht etwa Mittel
zum Glück der Menschen, sondern höchster Zweck
oder Selbstzweck, dem sich das Glück der einzelnen
Menschen als Mittel unterzuordnen hat. Sittlich
gut ist demnach eine Handlung dadurch, daß sie
der Kulturentwicklung Vorschub leistet. Es ist
leicht ersichtlich, daß die Sittennorm des Pro-
gressismus aus dem Pantheismus heraus-
gewachsen ist, der den einzelnen Menschen nur als
eine Erscheinung, ein Moment in der Entwicklung
des Absoluten auffaßt und ihm demgemäß als
höchste Aufgabe die Mitarbeit an dieser Entwick-
lung zuweist. Schon Friedrich E. D. Schleier-
macher, der Bahnbrecher der neueren protestan-
tischen Theologie (geb. 1768, gest. 1834), leugnete,
daß man vom bloßen Standpunkt des Indivi-
duums von einem höchsten Gut reden könne.
Das höchste Gut sei nämlich nicht etwas Indivi-
duelles, sondern könne nur etwas Soziales sein
und bestehe in dem beständigen Kulturfortschritt
der Menschheit oder darin, daß die Vernunft
immer mehr die ganze Natur durchdringe und be-
herrsche. Für das Individuum bestehe das höchste
Gut, wenn man davon überhaupt reden könne,
in der Mitarbeit an dem Kulturfortschritt und in
der Teilnahme an den Segnungen der allgemeinen
Kultur und Wohlfahrt. Nach Hegel (1770 bis
1831) ist die höchste Entwicklung des Absoluten
der Staat (vgl. Bd II, Sp. 1176). Hoöchste
Aufgabe und Pflicht aller einzelnen Menschen ist
es, Mitglieder des Staats zu sein. Ahnlich drückt
sich Schelling (1775/1854) aus. Auch Karl Chr.
Fr. Krause (ogl. Bd III, Sp. 486) und sein
Schüler, der Rechtsphilosoph H. Ahrens (1808/74)
bekennen sich im wesentlichen zum Prinzip des
Kulturfortschritts. Vom Standpunkt des Pessi-
mismus hat Eduard v. Hartmann (geb.
1842) den Kulturfortschritt als das unmittelbare
Ziel und Maß des Sittlichen für die gegenwärtige
Entwicklungsstufe des Absoluten hingestellt. Die
oberste sittliche Pflicht des Menschen ist nach ihm
„die Mitarbeit an der Abkürzung des Leidens-
und Erlösungswegs" des Unbewußten. Bestimmter
noch als Hartmann vertritt Wilh. Wundt (geb.
1832) das Moralprinzip des Kulturfortschritts.
Nach seiner Theorie sind nur jene „Zwecke“, d. h.
Wirkungen, sittlich, die sich der öffentlichen Wohl-
fahrt und dem allgemeinen Fortschritt irgendwie
unterordnen. Offentliche Wohlfahrt und allge-
meiner Fortschritt sind „objektive geistige Werte“,
die, aus dem gemeinsamen Geistesleben der Mensch-
heit hervorgehend, neue objektive Werte von noch
reicherem Inhalt erzeugen. Die letzten, eigentlich
sittlichen Zwecke, in die alle beschränkteren sittlichen
Sittliche Ordnung.
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Zwecke münden, sind die sog. humanen. Sie
bestehen in der Hervorbringung allgemeiner gei-
stiger Schöpfungen, an denen zwar das Einzel-
bewußtsein teilnimmt, deren Zweckobjekt aber nicht
der einzelne, sondern der allgemeine Geist der
Menschheit ist. Da aber das eigentliche Wesen
des Sittlichen unausgesetztes Streben ist, so
kann keine der erreichten Stufen der Sittlichkeit
als bleibender Zweck betrachtet werden. „Der
letzte Zweck des sittlichen Strebens wird so zu
einem idealen, in der Wirklichkeit nie erreich-
baren. . .. So erweist sich das ethische Ideal
als der letzte, die fortschreitende Annäherung
an dasselbe als der nächste Zweck der humanen
Sittlichkeit“ (Ethik II /„19031 119. 1229.
Die Gründe, die wir gegen den gesellschaftlichen
Eudämonismus anführten, sprechen im allgemeinen
auch gegen den Progressismus. Wie jener so macht
auch dieser das Menschengeschlecht zum absoluten
Selbstzweck und leugnet damit die Unterordnung
des Menschen unter Gott und seine ewige Bestim-
mung. Während er so die Gesamtheit der Menschen
vergöttert, erniedrigt er die einzelnen Individuen
zum bloßen Mittel und Werkzeug der Gesamtheit
und zerstört dadurch die persönliche Würde des
Menschen. Im besondern seien folgende Gründe
erwähnt. Nach der Überzeugung aller Vernünf-
tigen sind die irdischen Güter dem Menschen als
Mittel zur Erreichung seiner Bestimmung ge-
geben. Das Kulturfortschrittsprinzip oder der
Progressismus macht die irdischen Güter zum
Zweck des Menschen, den Menschen aber zum
bloßen Mittel für Beschaffung der irdischen Güter,
als ob die Menschen der Güter wegen und nicht
vielmehr die Güter der Menschen wegen da wären.
Man sage nicht, die Kultur fördere ja notwendig
das Glück der Menschen. Denn einmal würde
mit dieser Ausflucht nicht mehr der Kulturfort-
schritt (der Progressismus), sondern die durch ihn
herbeigeführte Wohlfahrt der Menschheit (der
Sozialeudämonismus) als Sittennorm aufgestellt.
Sodann ist es gar nicht wahr, daß das Glück der
Menschheit eine notwendige Folge des Kulturfort-
schritts ist. Nach dem Ausweis der offenkundigen
Erfahrung stehen vielmehr die Kulturentwicklung
und das Glück der menschlichen Gesellschaft sehr
oft in umgekehrtem Verhältnis. Bei hoher Kultur
kann ein großer Teil eines Volks in geistiger und
leiblicher Sklaverei, in Not und Elend schmachten.
Wäre der Kulturfortschritt überhaupt die Norm
der Sittlichkeit, so müßte immer und überall mit
dem Fortschritt der Kultur auch die Sittlichkeit
und Tugend wachsen. Es müßte also ein Volk
sittlich um so höher stehen, je mehr es Kunst und
Wissenschaft, Gewerbe, Handel und Verkehr för-
dert. Dem widerspricht aber nach den allgemeinen
sittlichen Anschauungen die tatsächliche Erfahrung.
Richtig ist nur, daß die wahre Kultur mit der
sittlichen Ordnung in innigem Zusammenhang
steht. Daraus folgt aber sofort, daß es eine falsche
und unsittliche Kultur gibt und man deshalb eines