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höheren Maßstabs bedarf, um die Kultur richtig
würdigen zu können.
4. Gefühls= und Geschmacksmoral. Es
ist eine offenkundige Tatsache, daß auch ungebildete
Menschen ohne vieles Nachdenken sehr wohl wissen,
was gut und bös ist. Durch diese auffallende Er-
scheinung wurden viele veranlaßt, anzunehmen,
daß es im Menschen wohl ein eignes Beurteilungs-
oder Unterscheidungsvermögen für gut und bös
geben müsse, das, ähnlich wie die Sinne, seinen
Gegenstand unmittelbar erfaßt. Darum stellten sie
die unmittelbare Anschauung oder den mora-
lischen Sinn (moral sense, sensus moralis)
als Norm der Sittlichkeit auf, so z. B. die Eng-
länder Graf von Shaftesbury (7 1713) und
Francis Hutcheson (1694/1747). Nach Fr. Hein-
rich Jacobi (1743/1819) hat der Mensch ein eignes
Vermögen, durch das er die moralischen und reli-
giösen Wahrheiten unmittelbar sieht oder fühlt
und Gutes und Böses voneinander unterscheidet.
Auch in neuester Zeit sind noch Versuche gemacht
worden, die sittlichen Erscheinungen aus ange-
bornen Trieben und Gefühlen zu erklären, z. B.
von Wilh. Schuppe (Grundzüge der Ethik und
Rechtsphilosophie, 1881) und A. Döring (Philo-
sophische Güterlehre, 1888; Handbuch der mensch-
lich-matürlichen Sittenlehre, 1899). Auf die
Frage: Was ist sittlich gut oder bös 7 erteilt also
die Gefühlsmoral die Antwort: Was dem
moralischen Sinn gefällt oder mißfällt.
An die Stelle des moralischen Sinns stellte
Adam Smith, der berühmte Begründer der
neueren Volkswirtschaftslehre (1723/96), das
Moralprinzip des Mitgefühls (Sympathie).
Er meinte, um zu wissen, was von der sittlichen
Beschaffenheit unserer eignen Handlungen zu hal-
ten sei, müßten wir zuerst unparteiische Zuschauer
bzw. Beurteiler der Handlungen anderer werden,
indem wir uns in deren Lage hineindenken. Wenn
die Handlungsweise der andern unsere Sympathie
findet, ist sie gut. Denselben Maßstab müssen
wir nachher an unser eignes Tun und Lassen
legen. Die Norm der Sittlichkeit ist also nach
Smith die Sympathie oder das Mitgefühl, und
die sittliche Grundforderung lautet: Handle so,
daß der unparteiische Beobachter mit dir sym-
pathisieren kann! Bekanntlich kommt auch Scho-
penhauer (71860) von seinem pessimistischen
Standpunkt aus zum Moralprinzip des Mit-
gefühls, beschränkt es aber auf das Mitgefühl an
fremdem Weh, d. h. auf das Mitleid. Joh. Fr.
Herbart (1776/1841) betrachtet die Ethik nur
als einen Teil der Asthetik und speziell die Tugend-
lehre als einen Teil der Kunstlehre, der vor den
übrigen Teilen bloß den Vorzug hat, daß seine
Vorschriften den Charakter der Verpflichtung an
sich tragen. „Der sittliche Geschmack“, sagt er,
„ist nicht verschieden von dem poetischen, musika-
lischen und plastischen. Das sittlich Schöne
ist etwas so Einfaches, so ursprünglich und selbst-
verständlich! Und da steht es nun auf seiner
Sittliche Ordnung.
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eignen Höhe, lächelnd herabschauend auf die Moral-
systeme.“ Und M. J. Berdyczewski (Über
den Zusammenhang zwischen Ethik und Asthetik,
1897) meint: „Es fragt sich nur, wozu brauchen
wir denn für unser Handeln einen andern Ge-
schmack als für unser ästhetisches Empfinden? ...
Als ob der Geschmack, mit dem wir das Schöne
beurteilen und empfinden, nicht stark genug wäre,
um unsere Handlungen zu meißeln, als ob das
alsbeicce Gewissen für die Sittlichkeit nicht aus-
reichte!
Indessen kann weder der moralische Sinn noch
der sittliche Geschmack als Sittennorm anerkannt
werden.
a) Der moralische Sinn, d. h. eine vom
Verstand verschiedene geistige Erkenntnisfähigkeit,
ist eine Fiktion. Aber selbst wenn es einen gei-
stigen moralischen Sinn gäbe, könnte er doch nicht
Sittennorm oder Moralprinzip, sondern höchstens
Erkenntnisprinzip des Guten und Bösen sein. In
der Frage nach der Norm der Sittlichkeit handelt
es sich jedoch um den objektiven Grund, warum
die eine Handlung gut, die andere schlecht ist.
Auf diese Frage kann man aber nicht antworten:
Diese Handlung ist gut, weil sie den (subjektiven)
moralischen Sinn befriedigt bzw. ihm gefällt;
jene Handlung ist schlecht, weil sie ihm keine Be-
friedigung verschafft bzw. mißfällt. Man muß
vielmehr gleich weiter fragen: Warum gefallen
dem moralischen Sinn die einen Handlungen,
während die andern ihm mißfallen? Antwortet
man darauf: weil die eine Handlung Lust ge-
währt, die andere nicht, so bekennt man sich zum
Privateudämonismus. Sagt man: weil durch die
eine die allgemeine Wohlfahrt gefördert wird,
durch die andere nicht, so ist man Sozialeudä-
monist. Lautet die Antwort: weil die eine Hand-
lung im Gegensatz zu der andern den Kultur-
fortschritt fördert, so wird der Progessismus
als Sittennorm aufgestellt bzw. anerkannt.
b) Das Moralprinzip des sittlichen
Geschmacks beruht auf der Annahme, die Gut-
heit unseres Wollens und Begehrens sei unabhängig
von den Gütern, auf die es gerichtet ist, oder was
dasselbe ist, ein Ding sei „nur insofern ein Gut,
als es begehrt wird". Das gerade Gegenteil ist
aber der Fall: die Gutheit des Gegenstands ist
der Grund, warum er gewollt wird. Wenn so-
dann die sittlichen Urteile nur Geschmacksurteile,
ein ästhetisches Wohlgefallen oder Mißfallen sind,
wäre dann der nicht ein Tor, der sich aus der
Verletzung der sittlichen Ordnung irgendwelche
Unruhe machte? Und was könnte man von einem
Menschen, der sein Leben nach den sittlichen Ur-
teilen einrichtet, sagen? Was anders, als er handle
geschmackvoll? Und von einem andern, der sich
weigert, die sittlichen Vorschriften zu beobachten?
Höchstens, er handle geschmacklos oder geschmack-
widrig. Woher endlich sollen diese Geschmacks-
urteile ihre verpflichtende Kraft haben? Und wer-
den ästhetische Betrachtungen überhaupt imstande