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sein, den Menschen, allen Leidenschaften und Ver-
suchungen zum Trotz, zu der Erfüllung aller seiner
Pflichten oder zu einem sittlichen Leben wirksam
anzutreiben? Die Geschmacksmoral spricht sich
selbst das Urteil, indem sie auf diese wichtigen
Fragen keine Antwort zu geben weiß.
5. Die Moralprinzipien des Ratio-
nalismus.
a) Der gesunde Menschenverstand
(common sense). Dem Naturalismus und
Skeptizismus gegenüber suchte Thomas Reid
(1710/96) zu beweisen, daß der menschliche Geist
einen natürlichen, allen einzelnen gemeinsam ein-
gepflanzten Instinkt habe, der ihn vor aller Er-
fahrung und Schlußfolgerung und unabhängig
davon zu der Erkenntnis und dem Fürwahrhalten
der höchsten Wahrheiten führe. Dieser Instinkt
ist eben der gemeine, gesunde Menschenverstand,
und soweit er sich auf das sittliche Gebiet bezieht,
heißt er das Gewissen, die moralische Fähigkeit
oder der moralische Sinn. Reid gebraucht
also auch den Ausdruck: moralischer Sinn, ver-
wahrt sich aber ausdrücklich gegen die Annahme,
dieser moralische Sinn sei bloß ein Gefühl. Auf
dem bloßen Gefühl lasse sich keine unveränderliche
Moral aufbauen. Die moralische Billigung oder
Mißbilligung bestehe vielmehr in Urteilen des
Verstands, die von Gefühlen des Wohlgefallens
oder Mißfallens begleitet seien.
Mit vollem Recht sucht Reid dem gemeinen
Menschenverstand oder dem gesunden Sinn seine
Rechte dem zerstörenden Skeptizismus gegenüber
zu wahren. Denn vor jeder wissenschaftlichen Er-
kenntnis sind alle Menschen im Besitz einer Summe
von sichern und klaren praktischen Wahrheiten
oder Grundsätzen. In diesem Sinn kann und
darf man von dem gemeinen Menschenverstand
als einer sichern Norm der Wahrheit reden. Aber
Reid dehnt den gemeinen Menschenverstand fürs
erste allzuweit aus, denn er weist ihm sogar die
allerhöchsten, von selbst einleuchtenden Vernunft-
prinzipien zu. Gegenstand des gesunden Sinns
sind vielmehr nur abgeleitete Wahrheiten, deren
Erkenntnis dem Menschen zu einer vernünftigen
Lebensführung durchschnittlich notwendig ist. Fürs
zweite ist auch die Reidsche Auffassung des sensus
communis nicht ganz klar. Er ist nämlich nicht
ein blinder Instinkt, sondern eine Veranlagung
der Vernunft, vermöge deren auch der Durch-
schnittsmensch viele notwendige praktische Wahr-
heiten mit voller Sicherheit und Klarheit erkennt,
ohne die wissenschaftlichen Gründe dafür zu durch-
schauen. Es kann also der gemeine Menschenver-
stand trotz seiner großen Bedeutung für die sittliche
Ordnung weder die einzige Quelle noch die höchste
Norm der Wahrheit bzw. der Sittlichkeit sein.
b) Sittennorm des kategorischen
Imperativs (siehe d. Art. Kant Bd II,
Sp. 1586/89 u. 1598/1602).
6. Dualismus von Sittlichkeit und
Recht. In der theistisch-christlichen Ethil herrschte
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl.
Sittliche Ordnung.
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allgemein die schon von Plato (f 347 v. Chr.)
und Aristoteles (1 322 v. Chr.) ausgesprochene
Ansicht, daß Recht und Sittlichkeit unzertrennlich
miteinander verbunden seien. Christian Tho-
masius (1655/1728) war der erste, der die
Rechtsordnung von der sittlichen Ordnung aus-
schied und ein von der Sittlichkeit unabhängiges
Recht zu begründen versuchte. Allmählich glaubte
man sogar die Möglichkeit von Konflikten zwischen
Recht und Sittlichkeit wahrzunehmen und trug
man kein Bedenken, dem Recht den Vorzug vor
der Moralität zu geben. Weitere Verbreitung hat
dieser Dualismus von Sittlichkeit und Recht durch
Kant ((1804) gefunden, der die Sittlichkeit in
der innern pflichtmäßigen Gesinnung, das Recht
ausschließlich in der äußern Ubereinstimmung mit
dem Gesetz bestehen läßt. Diese gewaltsame Tren-
nung der beiden so eng verbundenen Gebiete mußte
unausbleiblich eine Fälschung des Begriffs von
Recht und Gerechtigkeit zur Folge haben, und die
Rechtsbefugnis, die ein moralisches Können ist,
mußte in ein physisches Können, d. h. in rohe Ge-
walt umgewandelt werden.
Tatsächlich liegt jedoch die Rechtsordnung nicht
außerhalb der sittlichen Ordnung, sondern gehört
als wesentlicher Teil zu der gesamten sittlichen
Ordnung. Die Wahrheit dieses Satzes ergibt sich
klar und bestimmt schon aus der bloßen Neben-
einanderstellung und Vergleichung der beiden ge-
nannten Ordnungen. Zur sittlichen Ordnung
nämlich gehört alles, was erforderlich ist, damit
die freien Handlungen dem Menschen als einem
vernünftigen Wesen angemessen oder gut und wohl-
geordnet seien; sie ordnet demnach die freie Tätig-
keit des Menschen nach allen seinen Beziehungen.
Die Rechtsordnung aber umfaßt nur das, was
erforderlich ist, damit die freien Handlungen dem
Menschen als gesellschaftlichem oder sozialem Wesen
(animal scciale) angemessen seien; sie ordnet also
die Selbstbetätigung des Menschen nur nach seinen
sozialen Beziehungen. Nun sind aber die ge-
sellschaftlichen Beziehungen ein Teil jener Be-
ziehungen, die der Mensch als vernünftiges und
freies Wesen hat. Folglich ist die Rechtsordnung
ein wesentlicher Teil der sittlichen Ordnung. Zu
demselben Ergebnis führt sodann die Betrachtung
des Rechtsbegriffs. Unter Recht versteht man ent-
weder den Gegenstand der Gerechtigkeit oder das
Rechtsgesetz oder die Rechtsbefugnis. Der Gegen-
stand der Gerechtigkeit gehört zweifellos
der sittlichen Ordnung an, denn die Gerechtigkeit
ist eine der hauptsächlichsten sittlichen Tugenden.
Auch das Rechtsgesetz gehört der sittlichen
Ordnung an. Denn es wird aus dem natürlichen
Sittengesetz, sei es durch Schlußfolgerung oder
nähere Bestimmung, abgeleitet. In beiden Fällen
ist es ein Ausfluß des Naturgesetzes und ver-
pflichtet im Gewissen, so daß es nicht ohne Ver-
letzung der Gewissenspflicht und der sittlichen Ord-
nung übertreten werden kann. Zwar ist nicht jedes
sittliche Gesetz ein Rechtsgesetz, aber jedes Rechts-
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