Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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sein, den Menschen, allen Leidenschaften und Ver- 
suchungen zum Trotz, zu der Erfüllung aller seiner 
Pflichten oder zu einem sittlichen Leben wirksam 
anzutreiben? Die Geschmacksmoral spricht sich 
selbst das Urteil, indem sie auf diese wichtigen 
Fragen keine Antwort zu geben weiß. 
5. Die Moralprinzipien des Ratio- 
nalismus. 
a) Der gesunde Menschenverstand 
(common sense). Dem Naturalismus und 
Skeptizismus gegenüber suchte Thomas Reid 
(1710/96) zu beweisen, daß der menschliche Geist 
einen natürlichen, allen einzelnen gemeinsam ein- 
gepflanzten Instinkt habe, der ihn vor aller Er- 
fahrung und Schlußfolgerung und unabhängig 
davon zu der Erkenntnis und dem Fürwahrhalten 
der höchsten Wahrheiten führe. Dieser Instinkt 
ist eben der gemeine, gesunde Menschenverstand, 
und soweit er sich auf das sittliche Gebiet bezieht, 
heißt er das Gewissen, die moralische Fähigkeit 
oder der moralische Sinn. Reid gebraucht 
also auch den Ausdruck: moralischer Sinn, ver- 
wahrt sich aber ausdrücklich gegen die Annahme, 
dieser moralische Sinn sei bloß ein Gefühl. Auf 
dem bloßen Gefühl lasse sich keine unveränderliche 
Moral aufbauen. Die moralische Billigung oder 
Mißbilligung bestehe vielmehr in Urteilen des 
Verstands, die von Gefühlen des Wohlgefallens 
oder Mißfallens begleitet seien. 
Mit vollem Recht sucht Reid dem gemeinen 
Menschenverstand oder dem gesunden Sinn seine 
Rechte dem zerstörenden Skeptizismus gegenüber 
zu wahren. Denn vor jeder wissenschaftlichen Er- 
kenntnis sind alle Menschen im Besitz einer Summe 
von sichern und klaren praktischen Wahrheiten 
oder Grundsätzen. In diesem Sinn kann und 
darf man von dem gemeinen Menschenverstand 
als einer sichern Norm der Wahrheit reden. Aber 
Reid dehnt den gemeinen Menschenverstand fürs 
erste allzuweit aus, denn er weist ihm sogar die 
allerhöchsten, von selbst einleuchtenden Vernunft- 
prinzipien zu. Gegenstand des gesunden Sinns 
sind vielmehr nur abgeleitete Wahrheiten, deren 
Erkenntnis dem Menschen zu einer vernünftigen 
Lebensführung durchschnittlich notwendig ist. Fürs 
zweite ist auch die Reidsche Auffassung des sensus 
communis nicht ganz klar. Er ist nämlich nicht 
ein blinder Instinkt, sondern eine Veranlagung 
der Vernunft, vermöge deren auch der Durch- 
schnittsmensch viele notwendige praktische Wahr- 
heiten mit voller Sicherheit und Klarheit erkennt, 
ohne die wissenschaftlichen Gründe dafür zu durch- 
schauen. Es kann also der gemeine Menschenver- 
stand trotz seiner großen Bedeutung für die sittliche 
Ordnung weder die einzige Quelle noch die höchste 
Norm der Wahrheit bzw. der Sittlichkeit sein. 
b) Sittennorm des kategorischen 
Imperativs (siehe d. Art. Kant Bd II, 
Sp. 1586/89 u. 1598/1602). 
6. Dualismus von Sittlichkeit und 
Recht. In der theistisch-christlichen Ethil herrschte 
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl. 
Sittliche Ordnung. 
  
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allgemein die schon von Plato (f 347 v. Chr.) 
und Aristoteles (1 322 v. Chr.) ausgesprochene 
Ansicht, daß Recht und Sittlichkeit unzertrennlich 
miteinander verbunden seien. Christian Tho- 
masius (1655/1728) war der erste, der die 
Rechtsordnung von der sittlichen Ordnung aus- 
schied und ein von der Sittlichkeit unabhängiges 
Recht zu begründen versuchte. Allmählich glaubte 
man sogar die Möglichkeit von Konflikten zwischen 
Recht und Sittlichkeit wahrzunehmen und trug 
man kein Bedenken, dem Recht den Vorzug vor 
der Moralität zu geben. Weitere Verbreitung hat 
dieser Dualismus von Sittlichkeit und Recht durch 
Kant ((1804) gefunden, der die Sittlichkeit in 
der innern pflichtmäßigen Gesinnung, das Recht 
ausschließlich in der äußern Ubereinstimmung mit 
dem Gesetz bestehen läßt. Diese gewaltsame Tren- 
nung der beiden so eng verbundenen Gebiete mußte 
unausbleiblich eine Fälschung des Begriffs von 
Recht und Gerechtigkeit zur Folge haben, und die 
Rechtsbefugnis, die ein moralisches Können ist, 
mußte in ein physisches Können, d. h. in rohe Ge- 
walt umgewandelt werden. 
Tatsächlich liegt jedoch die Rechtsordnung nicht 
außerhalb der sittlichen Ordnung, sondern gehört 
als wesentlicher Teil zu der gesamten sittlichen 
Ordnung. Die Wahrheit dieses Satzes ergibt sich 
klar und bestimmt schon aus der bloßen Neben- 
einanderstellung und Vergleichung der beiden ge- 
nannten Ordnungen. Zur sittlichen Ordnung 
nämlich gehört alles, was erforderlich ist, damit 
die freien Handlungen dem Menschen als einem 
vernünftigen Wesen angemessen oder gut und wohl- 
geordnet seien; sie ordnet demnach die freie Tätig- 
keit des Menschen nach allen seinen Beziehungen. 
Die Rechtsordnung aber umfaßt nur das, was 
erforderlich ist, damit die freien Handlungen dem 
Menschen als gesellschaftlichem oder sozialem Wesen 
(animal scciale) angemessen seien; sie ordnet also 
die Selbstbetätigung des Menschen nur nach seinen 
sozialen Beziehungen. Nun sind aber die ge- 
sellschaftlichen Beziehungen ein Teil jener Be- 
ziehungen, die der Mensch als vernünftiges und 
freies Wesen hat. Folglich ist die Rechtsordnung 
ein wesentlicher Teil der sittlichen Ordnung. Zu 
demselben Ergebnis führt sodann die Betrachtung 
des Rechtsbegriffs. Unter Recht versteht man ent- 
weder den Gegenstand der Gerechtigkeit oder das 
Rechtsgesetz oder die Rechtsbefugnis. Der Gegen- 
stand der Gerechtigkeit gehört zweifellos 
der sittlichen Ordnung an, denn die Gerechtigkeit 
ist eine der hauptsächlichsten sittlichen Tugenden. 
Auch das Rechtsgesetz gehört der sittlichen 
Ordnung an. Denn es wird aus dem natürlichen 
Sittengesetz, sei es durch Schlußfolgerung oder 
nähere Bestimmung, abgeleitet. In beiden Fällen 
ist es ein Ausfluß des Naturgesetzes und ver- 
pflichtet im Gewissen, so daß es nicht ohne Ver- 
letzung der Gewissenspflicht und der sittlichen Ord- 
nung übertreten werden kann. Zwar ist nicht jedes 
sittliche Gesetz ein Rechtsgesetz, aber jedes Rechts- 
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