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gesetz ist ein sitkliches Gesetz. Desgleichen ist die
Rechtsbefugnis in der sittlichen Ordnung
eingeschlossen, weil sie die Wirkung eines sittlichen
Gesetzes bzw. des Rechtsgesetzes ist und in den
andern eine Rechtspflicht, d. h. eine Gewissens-
pflicht, also eine sittliche Pflicht voraussetzt. Außer-
dem wird auch der Gebrauch dieses Rechts durch
die sittlichen Gesetze geregelt. Wer also den sitt-
lichen Charakter der Rechtspflichten leugnet, be-
raubt die ganze Rechtsordnung ihrer Würde oder
ihres Adels und würdigt sie zu einer Summe von
bloßen Zwangsmaßregeln, ja zu einem willkür-
lichen Polizeisystem herab. Die Rechtsordnung ist
somit ein integrierender oder wesentlicher Teil der
sittlichen Ordnung.
Wenn aber die Rechtsordnung als Teil zu der
sittlichen Ordnung gehört, wie, so wird einge-
wendet, läßt es sich dann erklären, daß man dem
Rechtsgesetz schon durch die äußere Leistung dessen,
was es vorschreibt, also durchbloße Legalität
genügt, während es doch bei der sittlichen Ord-
nung hauptsächlich auf die innere Gesinnung
ankommt? Dieser Einwand, der oftmals für die
Trennung der Rechtsordnung von der sittlichen
Ordnung ins Feld geführt wird, ist unberechtigt.
Denn dem Rechtsgesetz genügt man allerdings an
und für sich durch die bloß äußerliche Erfüllung
der gesetzlichen Vorschrift, aber zu dieser äußern
Leistung ist man im Gewissen verpflichtet. Wer
daher die äußere Leistung, obwohl er sie erfüllen
könnte, unterläßt, zieht sich eine Schuld gegen die
Gerechtigkeit zu, verletzt also die sittliche Ordnung.
Das Rechtsgesetz könnte überhaupt keine Gewissens-
pflicht auferlegen, wenn es außerhalb der sittlichen
Ordnung läge. Nicht selten wendet man auch die
Erzwingbarkeit der Rechtspflicht gegen die
Zugehörigkeit des Rechts zu der sittlichen Ord-
nung ein. Die sittlichen Pflichten, so sagt man,
lassen sich nicht erzwingen, also können die Rechts-
pflichten, da sie erzwingbar sind, nicht sittliche
Pflichten sein. Aber hier liegt eine petitio prin-
cipii vor. Daß es keine erzwingbaren sittlichen
Pflichten gebe, kann man nämlich nur behaupten,
wenn man schon voraussetzt, was erst zu beweisen
ist, daß nämlich die Rechtsordnung und die sitt-
liche Ordnung vollständig getrennte Ordnungen
seien. Die oben angeführten Beweise zeigen, daß
die Rechtspflichten erzwingbare und zugleich sitt-
liche Pflichten sind.
Aus dem Gesagten ergeben sich zwei wichtige
Schlußfolgerungen. Erstens verdient ein
Rechtsgesetz nur dann diesen Namen, d. h. es er-
teilt wahre Rechtsbefugnisse und legt wirkliche
Pflichten nur dann auf, wenn es nichts dem
natürlichen Sittengesetz Widersprechendes enthält;
denn es kann in der sittlichen Ordnung keine sich
widersprechenden Gesetze geben. Dagegen ist es
nicht ausgeschlossen, daß der Gebrauch eines
Rechts, d. h. die subjektive Ausübung einer Rechts-
befugnis zufälligerweise mit den Forderungen des
Sittengesetzes im Widerspruch steht. Wenn z. B.
Sittliche Ordnung.
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jemand ein Kapital auf bestimmte Rückzahlung
ausgeliehen hat, besitzt er das Recht, nach Ablauf
des Zahlungstermins das Kapital nötigenfalls
mit Gewalt eintreiben zu lassen. Dieses Recht
widerspricht keiner Vorschrift des Sittengesetzes;
aber es wäre eine Verletzung der Liebe, wenn er
ohne Not zum Nachteil eines armen oder zahlungs-
unfähigen Gläubigers von seinem Recht Gebrauch
machte. Zweitens ist nach dem Gesagten die Ein-
teilung der Moralphilosophie in Ethik und
Naturrecht oder in die Lehre von der sittlichen
Ordnung (Tugendlehre) und von der Rechtsord-
nung (Rechtslehre) ganz unhaltbar. Die sittliche
Ordnung enthält die Rechtsordnung schon als
Teil, und es ist deshalb fehlerhaft, die letztere als
etwas Selbständiges der ersteren gegenüberzu-
stellen. Die Rechtsordnung ist der sittlichen Ord-
nung nicht koordiniert oder gleichgestellt, sondern
subordiniert oder untergeordnet.
7. Die unabhängige oder religions-
lose Moral (Laienmoral). Gibt es eine von jeder
Religion unabhängige, also religionslose Moral?
Das ist eine der allerwichtigsten und am häufigsten
aufgeworfenen Fragen der Gegenwart, eine Frage,
die tief in das praktische Leben jedes einzelnen
Menschen und der ganzen Gesellschaft eingreift
und besonders für das gesamte Unterrichts= und
Erziehungswesen von entscheidender Bedeutung ist.
a) Unterunabhängiger, religionsloser oder
autonomer Moral versteht man eine Sittenlehre,
die in keiner Weise von Gott und Religion ab-
hängt oder auf sie Rücksicht nimmt. Man nennt
sie deshalb wohl auch die „rein menschliche“, die
„positive“" Moral, oder weil sie der Religion, also“
auch der Priester nicht bedarf, Laienmoral. Die
sog. unabhängige Moral faßt das Leben rein
„diesseitig“" auf. Das jenseitige unsterbliche Leben
wird entweder offen geleugnet oder außer acht ge-
lassen. Alle Materialisten und Atheisten sind not-
wendig Anhänger der „autonomen“ Moral. Gibt
es keinen Gott und keine Religion, so kann selbst-
verständlich die Moral nicht von der Religion ab-
hängig gemacht, sondern muß auf sich selbst ge-
stellt werden.
Jeden Zusammenhang der Sittlichkeit mit der
Religion haben schon die Moralskeptiker und So-
phisten des Altertums bestritten, indem sie lehrten,
die ganze sittliche Ordnung beruhe nur auf Men-
schensatzung oder Herkommen und Gewohnheit.
Die sittliche Ordnung wäre danach bloßes Men-
schenwerk, eine rein menschliche Angelegenheit, die
mit der Religion nichts zu tun hätte. Mit welcher
Einstimmigkeit und Zuversicht seitdem die Unab-
hängigkeit der Moral von der Religion prokla-
miert wird, ergibt sich aus den Worten G. v. Gi-
Syckis, mit denen er die Frage beantwortet, ob
es möglich sei, die Moral von allen religiösen
Voraussetzungen unabhängig zu machen: „Wenn
die Wissenschaft der Ethik in ihrer mehr als
2000jährigen Geschichte etwas zweifellos gemacht
hat, so ist es die bejahende Antwort dieser Frage;