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natürliche Unzucht auf eine ÜUbersättigung in dem
Genuß geschlechtlicher Ausschweifungen zurück-
zuführen ist. Die Beseitigung der Strafbestim-
mung würde auch für diese Fälle Straffreiheit zur
Folge haben. Es gibt aber wohl kaum etwas,
wogegen sich das allgemeine Sittlichkeitsgefühl
in dem Maß sträubt, wie gegen den straffreien
Betrieb gerade der widernatürlichen Unzucht. Des-
halb hat auch die Allgemeinheit einen berechtigten
Anspruch darauf, daß das Verbot dieses Sittlich-
keitsverbrechens, einerlei ob dabei öffentliche
Argerniserregung vorliegt oder nicht, bestehen
bleibt. Daß die widernatürliche Unzucht schon im
römischen Recht und ebenso im deutschen und ka-
nonischen Recht mit den schwersten Strafen be-
droht war, ist bekannt. Im römischen Recht wurde
sie sogar mit Todesstrafe geahndet.
Was die Sittlichkeitsdelikte im einzelnen an-
geht, so möge genügen, darauf hinzuweisen, daß
das deutsche St. G. B. dieselben im Abschnitt XIII.
unter den §§ 171/184 behandelt, während der
§ 361, Nr 6 polizeiliche Vorschriften für Reglung
des gewerbsmäßigen Unzuchtsbetriebs (Näheres
hierüber s. im Art. Sittenpolizei) enthält. Außer-
dem handeln die §§ 235/238 von der Entfüh-
rung (Vergehen und Verbrechen gegen die perfön-
liche Freiheit) und die §§ 218/220 von der Ab-
treibung (Vergehen und Verbrechen gegen das
Leben). § 171 enthält das Verbot der Bigamie,
während der bloße Ehebruch nach § 172 nur
dann, und zwar nur auf Antrag strafbar ist, wenn
infolge desselben die Ehe geschieden ist. § 173
stellt den Inzest, die Blutschande d. i. den Bei-
schlaf (nicht andere unsittliche Handlungen) zwi-
schen Verwandten in auf= und absteigender Linie
unter Strafe. § 174 sieht Strafe vor gegen Vor-
münder, Vorgesetzte, Beamte, die unzüchtige Hand-
lungen mit den ihrem Schutz oder ihrer Gewalt
anvertrauten Personen vornehmen. § 175 handelt
von der bereits erwähnten widernatürlichen Un-
zucht. Die §8 176/199 handeln von der Not-
zucht, der Anwendung von Arglist zum Zweck der
Verführung und von der Unzucht mit Kindern
unter 14 Jahren. Die §8 180 und 181 stellen
die Kuppelei und der durch Gesetz vom 25. Juni
1900 neu hinzugefügte 8 181 a die Zuhälterei
Als Zuhälter ist anzusehen jede
unter Strafe.
Sittlichkeit usw.
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mand durch eine unzüchtige Handlung öffentlich
ein Argernis erregt. Unzüchtige Handlung ist hier
im weitesten Sinn zu verstehen, sie kann insbeson-
dere auch im Absingen eines Lieds, in dem Vor-
trag eines Gedichts u. dgl. bestehen.
Ein besonderes Interesse gebührt dem die Ver-
breitung unzüchtiger Schriften, Bilder
und Darstellungen behandelnden § 184 so-
wohl wegen seiner Wichtigkeit an sich wie wegen
des wüsten Kampfs, der um ihn bei der Beratung
der bekannten lex Heinze geführt worden ist.
Niemand wird leugnen können, daß nichts so all-
gemein und in so gefährlicher Weise zur sittlichen
Vergiftung des ganzen Volkslebens, namentlich
der heranwachsenden Jugend, beiträgt wie die
Verbreitung unsittlicher Bilder, Photographien
und Schriften. Die Klagen über die zunehmende
Dreistigkeit in der Anpreisung und öffentlichen
Ausstellung solcher Machwerke werden aus allen
Kreisen der Bevölkerung erhoben, namentlich aus
denjenigen Kreisen, denen die Obhut der Jugend
anvertraut und ein tieferer Einblick in die sittliche
Seite unseres Volkslebens gewährt ist. Nach dem
zurzeit geltenden Strafrecht ist nur die Verbrei-
tung und öffentliche Ausstellung unzüchtiger
Schniften und Bilder strafbar. Durch die oft sehr
schwankende Rechtsprechung des Reichsgerichts aber
war der Begriff „unzüchtig“ zeitweise in so enge
Grenzen gezogen, daß selbst die schamlosesten Ab-
bildungen und Darstellungen tatsächlich straffrei
blieben. Durch die lex Heinze sollte diese
empfindliche Lücke ausgefüllt werden, indem zum
8 184 eine neue Bestimmung als § 184 a hinzu-
gefügt werden sollte, wonach bestraft wurde, „wer
Schriften, Abbildungen oder Darstellungen,
welche, ohne „unzüchtig“ zu sein, das Schamgefühl
gröblich verletzen, zu geschäftlichen Zwecken an
öffentlichen Straßen, Plätzen oder an andern Or-
ten, die dem öffentlichen Verkehr dienen, in ärgernis-
erregender Weise ausstellt oder anschlägt“. Trotz-
dem also die Strafbarkeit nur unter den erheb-
lichsten Einschränkungen: 1) daß das Scham-
gefühl gröblich verletzt werde, 2) daß die Aus-
stellung zu geschäftlichen Zwecken (nicht also
zu Kunstzwecken, in wissenschaftlichem Interesse
usw.) geschehe, 3) daß sie an öffentlichen Straßen
usw. und 4) in ärgerniserregender Weise geschehe,
männliche Person, welche von einer Frauens= eintreten sollte, glaubte man doch einen Protest-
verson, die gewerbsmäßig Unzucht treibt, unter und Entrüstungssturm gegen die „Knebelung der
Ausbeutung ihres unsittlichen Erwerbs ganz oder Kunst und Wissenschaft" in Szene setzen und durch
teilweise den Lebensunterhalt bezieht oder welche Obstruktion im deutschen Reichstag das Zustande-
einer solchen Frauensperson gewohnheitsmäßig kommen des Gesetzes vereiteln zu müssen. Ebenso
oder aus Eigennutz in Bezug auf die Ausübung kurz wie treffend erklärte bei den Verhandlungen
des unzüchtigen Gewerbes Schutz gewährt oder im Reichstag ein Vertreter der verbündeten Re-
sonst förderlich ist. Wenn der Ehemann der be= gierungen: „Was wir wollen, ist nicht, die Kunst
treffenden Frauensperson Zuhälter der letzteren zu fesseln und zu reglementieren. Das wäre ein
ist, so tritt Verschärfung der Strafe ein. Nach Mißgriff. Aber die Schaufenster säubern von
§ 182 trifft denjenigen eine Strafe, der ein un= Zoten und Gemeinheiten, die mit der Kunst nichts
bescholtenes Mädchen, welches das 16. Lebensjahr U zu tun haben, das betrachten die verbündeten Re-
noch nicht vollendet hat, zum Beischlaf verführt. gierungen als ein Bedürfnis und eine Pflicht des
§ 183 bedroht allgemein mit Strafe, wenn je= Gesetzgebers.“ Trotzdem ist das Gesetz in der an-