Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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oberster Grundsatz tritt uns da auf den ersten 
Blick „das System der natürlichen Freiheit“ ent- 
gegen — ein Ausdruck, der zuerst bei Pufendorf 
vorkommt, und den Smith von seinem Lehrer 
Hutcheson übernommen hat. Es bedeutet für ihn 
die möglichst freie Bewegung des Individuums, 
eine Konsequenz seiner philosophischen Anschauung, 
daß die gesamte Ordnung der Natur ohne äußern 
Eingriff von selbst in aller Zweckmäßigkeit sich er- 
gebe: auf das Wirtschaftsleben übertragen, will 
das besagen, daß es sich, abgesehen von den 
Schranken der Beobachtung der Gerechtigkeit, nach 
den Gesetzen des Nützlichen und des Eigeninter- 
esses regle — was die Physiokraten in die Formel 
Laissez faire, laissez passer gebracht haben. 
Also aus seiner Hypothese von der natürlichen Har- 
monie folgt auch hier für Smith sein Prinzip der 
ökonomischen Freiheit. Jene Harmonie läßt ihn 
annehmen, daß der Reichtum der Nation einfach 
in der Addition des Besitzes der einzelnen bestehe; 
und das führte wieder zur Begünstigung des in- 
dividualistischen Eigeninteresses (privat interest), 
das nur nicht in die den natürlichen Wirtschafts- 
verlauf störende Selbstsucht (selfishness) aus- 
arten darf; da der einzelne durch das Eigen- 
interesse getrieben wird, seinen Reichtum zu ver- 
mehren, so entsteht, wenn man dessen natürliche 
Freiheit nicht beschränkt, dadurch von selbst der 
Nationalreichtum. Darum ist auch die Privat- 
industrie dem staatlichen Betrieb der Wirtschaft 
vorzuziehen. Smith sucht dann jene angenommene 
Harmonie bis ins Detail zu verfolgen und nach- 
zuweisen: der Ackerbau ist an und für sich nütz- 
licher als die Industrie, und ohne staatliche Ein- 
griffe würden an sich die meisten sich dem Ackerbau 
zuwenden bzw. in ihm ihre Mittel anlegen; von 
den Arten des Handels wieder hält er den innern 
für produktiver als den auswärtigen, und letzteren 
für nutzbringender als den Transport zwischen 
fremden Ländern — und er ist überzeugt, daß der 
Kaufmann, solange er von äußern Einflüssen un- 
beeinflußt bleibe, gewissermaßen unwillkürlich 
dieser Gemeinnützigkeitsskala entsprechend seine 
Kapitalien arbeiten lasse. Alle Beschränkungen und 
Begünstigungen schaden nur; und so ergibt sich 
als das allein vernünftige das System der natür- 
lichen Freiheit von selbst: jedermann muß es frei- 
stehen, solange er nur die Gerechtigkeit nicht ver- 
letzt, sein eignes Interesse auf seine Weise zu 
verfolgen. Gegen alle Faktoren aber, die als 
Gegengewicht gegen den Eigennutz zum allgemei- 
nen Besten tätig sein wollen, hat er ein unbesieg- 
liches Mißtrauen: gegen die Kirchen, denen er 
Herrschsucht nachsagt (über die römische Kirche ins- 
besondere hat er recht gehässige Anschauungen), 
gegen den Staat, wo die Reichen und Vornehmen 
übermäßigen Einfluß ausüben und ihn zur Unter- 
drückung der Schwächeren gebrauchen, gegen die 
gemeinnützigen einzelnen, weil deren Humanität 
vielfach nur der Deckmantel egoistischer oder gar 
schädlicher Zwecke sei. Der im Staat organisierten 
Smith. 
  
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öffentlichen Gewalt liegen daher nur drei Pflichten 
ob: „Die erste ist die Verteidigung der Gesellschaft 
gegen jeden Akt der Gewalt oder des Angriffs von 
seiten anderer unabhängiger Gesellschaften. Die 
zweite ist die Schutzpflicht nach dem Grad der 
Möglichkeit jedem Mitglied der Gesellschaft gegen- 
über zur Abwehr jeder Unterdrückung und Unge- 
rechtigkeit seitens anderer Mitglieder oder die 
Pflicht, eine genaue und zuverlässige Verwaltung 
der Justiz einzurichten. Und die dritte ist die 
Pflicht, gewisse öffentliche Werke ins Leben zu 
rufen und zu erhalten, sowie gewisse Einrichtungen 
zu treffen, welche das Privatinteresse eines ein- 
zelnen oder mehrerer einzelnen niemals errichten 
oder unterhalten könnte.“ Das wäre also dem 
Wesen nach der „Nachtwächterstaat“, über den sich 
später Lassalle lustig gemacht hat. 
Es ist Smith eigentümlich und gewissermaßen 
für ihn sogar charakteristisch, daß er bei aller Ent- 
schiedenheit und weitgehenden Schärfe seiner wirt- 
schaftspolitischen Grundsätze dieselben stets in einer 
höchst gemäßigten und vorsichtigen Form vorträgt, 
ja daß er für die Ausführung möglichst schonende 
Konzessionen zuläßt und selber vorschlägt. Das gilt 
insbesondere hinsichtlich der Handelspolitik. Sein 
theoretischer Standpunkt kann selbstverständlich 
nur der der Handelsfreiheit unter Ausschluß aller 
Zollschranken sein. Da er aber weiß, daß unter 
den bestehenden Verhältnissen dessen Durchführung 
eine Utopie ist, die vielleicht erst in sehr ferner Zeit 
verwirklicht werden kann, so beschränkt er sich dar- 
aus, einstweilen nur die Milderung der bestehen- 
den, seinen Prinzipien widerstreitenden Gesetze zu 
verlangen. Ja er ist so wenig einseitig, daß es 
nicht an Stimmen gefehlt hat, die ihn des Ver- 
rats an seinen Grundsätzen geziehen haben; wenn 
man aber seinen obigen Standpunkt gerecht wür- 
digt, der jedem Versuch radikaler und überstürzter 
Reformen sich widersetzte, so kann man in Smiths 
Stellung als Zollkommissar keine Inkonsequenz 
erblicken. In letzter Zeit ringt sich auch immer 
mehr die Erkenntnis durch, daß der angebliche 
„Vater des Freihandels“ gar kein einseitiger bzw. 
radikaler Freihändler gewesen ist. Auch hier ist 
eben mit ein paar absoluten Urteilen und Kate- 
gorien nichts getan. Selbst die beiden neuesten 
Biographien Smiths (beide 1905 erschienen) hal- 
ten sich von Ubertreibungen nicht frei; während 
es nach Jentsch fast scheinen könnte, als ob Smith 
wenigstens praktisch ganz vom Freihandel zurück- 
gekommen sei, bemüht sich der Engländer Hirst, 
ihn als den Schöpfer der später von Cobden und 
seiner Gruppe vertretenen absoluten Freihandels- 
lehre nachzuweisen — ihn, der die Navigations- 
akte billigte! Die Fragestellung kann gar nicht 
sein: Freihändler oder Protektionist? sondern nur: 
radikaler oder gemäßigter Freihändler? Der Aus- 
druck Freetrade ist eben ziemlich vieldeutig. Smith 
fiel es gar nicht ein, sich den Radikalismus des 
späteren Manchestertums und des von d'Argen- 
son geführten Flügels der Physiokraten anzueignen
	        
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