Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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(so wenig übrigens Quesnays eigne, viel ge- 
mäßigtere Freihandelslehre mit der radikalen seiner 
Schule identifiziert werden darf). Wenn man nur 
bedenkt, daß Smith mitseiner ökonomischen Theorie 
eigentlich eine Art Synthese von Agrikultur= und 
Merkantilsystem geben zu können glaubte, so ist 
es von vornherein wahrscheinlich, daß er auf der 
extremen Seite nicht zu finden sein wird. Freilich 
hat er sich hie und da radikaler ausgedrückt, als 
es in sein übriges System hineinpaßt; und diese 
Stellen wurden dann von den Manchesterleuten 
aufgegriffen und in ihrem Sinn ausgebeutet. Über- 
blickt man aber abwägend alle die zerstreuten 
Außerungen über handelspolitische Fragen, so 
kann kein Zweifel sein, daß Smith bezüglich des 
die Handelspolitik schließlich bestimmenden Zoll- 
wesens mit Bewußtsein folgende Punkte verireten 
hat: keine Schutzzölle oder höchstens unter be- 
stimmten Voraussetzungen ausnahmsweise; mäßige 
Finanzzölle grundsätzlich, deren Höhe den innern auf 
der Produktion liegenden Steuern entsprechen soll; 
Möglichste Zollfreiheit der zum notwendigen Lebens- 
unterhalt der arbeitenden Klassen gehörigen Waren; 
Retorsionszölle in den Ausnahmefällen, wo das 
Ausland eine feindselige Handelspolitik befolgt, 
wenn dieser dadurch mit Erfolg begegnet werden 
kann. Das ist kein radikaler Freihandelsstandpunkt, 
sondern ausgesprochenste Mittellinienpolitik. Und 
ähnliche Zurückhaltung kann auch bei der Finanz- 
wissenschaft und insbesondere der Steuerlehre 
Smiths festgestellt werden, auf die wir hier nicht 
näher einzugehen brauchen, weil sie in den meisten 
Einzelheiten längst überholt und veraltet ist. Er 
fordert keineswegs einen sofortigen Bruch mit dem 
bestehenden Steuerwesen, sondern nur Beseitigung 
der ärgsten Ungerechtigkeiten. Der Frage der Über- 
wälzung wendet er besondere Aufmerksamkeit zu. 
Für seine gesamte Auffassungsweise charakteristisch 
sind die vier von ihm aufgestellten Regeln: 1) Die 
Untertanen müssen möglichst im Verhältnis ihrer 
Leistungsfähigkeit zu den Staatsbedürfnissen bei- 
tragen; 2) die Steuer muß nach Höhe, Zeit und 
Zahlungsart genau bestimmt, nicht willkürlich 
sein; 3) die Zeit und Art der Erhebung müssen 
so angeordnet werden, daß der Steuerzahler da- 
durch möglichst wenig bedrückt wird; 4) die Er- 
hebung muß so eingerichtet werden, daß sie mög- 
lichst wenig Kosten verursacht. 
5. Würdigung der Virtschaftslehre. 
Nach der formalen Seite erhebt sich hier zunächst 
die Frage, ob und inwieweit Smith von Vor- 
gängern abhängig gewesen ist. Es versteht sich 
von selbst, daß er eine Menge zu seiner Zeit be- 
reits vorhandenen Materials seinen Ausstellungen 
zugrunde gelegt und benutzt hat; und wenn es sich 
der Mühe, der sich bis jetzt freilich noch niemand 
unterzogen hat, lohnte, würde eine eingehendere 
Untersuchung zweifellos eine ganze Menge fleißig 
ausgebeuteter Quellen zu Tage fördern. Darum 
handelt es sich aber auch gar nicht; es fragt sich 
nur, ob Smith diese schon erarbeiteten Einzeler- 
Smith. 
  
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kenntnisse durch ein ihm eignes ordnendes Prin- 
zip zusammengefaßt und mit seinem Geiste so durch- 
drungen hat, daß aus ihnen ein neues originelles 
System entstanden ist. Es fehlt nicht an Stimmen, 
die ihm schöpferische Genialität absprechen; Has- 
bach z. B. meint: 
„Sowohl das ethische wie das nationalökonomi- 
sche Werk beweisen, daß sich Smith an Originalität 
des Geistes keineswegs mit Männern wie Descartes 
oder Hume messen kann. Er ist kein Pfadfinder der 
Wissenschaft, sondern ein im höchsten Maß rezep- 
tiver Kopf, der sich von den verschiedensten Seiten 
anregen läßt, dem Fremden eine nicht gewöhnliche 
produktive Kritik entgegenbringt und die mannig- 
fachen Elemente zu einem wohlgeordneten System 
zu vereinigen weiß." 
Daran ist nur richtig, daß Smith nicht eigent- 
lich ein Genie war und sich vielfach von außen 
anregen ließ; wenn aber damit gesagt sein soll, 
daß er auch inhaltlich seine Theorie aus andern 
geschöpft habe, so widerspricht dem die neueste 
Forschung. Smiths großer Ruhm und einzig- 
artiges Verdienst besteht ja darin, daß er die 
wirtschaftlichen Tatsachen unter einem allgemeinen 
Gesichtspunkt zusammengefaßt und ihren innern 
Zusammenhang aus einem einzigen großen ökono- 
mischen Prinzip erklärt und dadurch der Volks- 
wirtschaftslehre sofort eine solide Grundlage ge- 
geben hat. Wenn also eine Abhängigkeit oder 
Beeinflussung prinzipieller Art vorliegen sollte, so 
könnte sie nur von solchen ausgegangen sein, die 
ebenfalls nach einem entsprechenden einheitlichen 
Wirtschaftsprinzip suchten; und das sind nur die 
französischen Physiokraten. In der Tat finden 
sich bei diesen so viele Berührungspunkte und 
Ahnlichkeiten mit Smith, daß a priori die Ver- 
mutung nicht abzuweisen ist, dieser lehne sich in 
grundlegenden Punkten an jene an oder setze ein- 
fach ihre Lehre fort. Es steht jedoch fest, daß sein 
System in den Grundzügen bereits vollendet war, 
als er 1766 bei seinem Besuch in Paris mit den 
Physiokraten in Berührung kam. Insbesondere 
kann nach der Veröffentlichung der Glasgower Vor- 
lesungen nicht mehr bestritten werden, daß Smith 
den Hauptsatz seiner Theorie, den der ökonomischen 
Freiheit, völlig unabhängig von den Physiokraten, 
die ihn übereinstimmend mit ihm vertreten, auf- 
gestellt hat. „Es ist nicht zu befürchten“, heißt es 
da, „wenn man den Dingen ihren freien Lauf 
läßt, daß es einem Volk an den für den Umsatz 
seiner Waren nötigen Geldmengen fehlt; jedes 
Ausfuhrverbot ist immer unwirksam und oft nur 
die Ursache einer stärkeren Ausfuhr“; ferner: „Es 
ist die beste Politik, den Dingen ihren natürlichen 
Lauf zu lassen und weder Prämien zu geben noch 
Zölle zu fordern.“ Ja Dugald Stewart hat uns 
aus einer Rede schon für das Jahr 1755 folgende 
Aussprüche aufbewahrt: „man solle in den mensch- 
lichen Angelegenheiten nur die Natur ungehemmt 
lassen, so werde sie ihr Ziel erreichen und ihre 
Absicht verwirklichen“; und „daß der Staat von
	        
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