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eigentlich schon gegeben. Schon bei Smith findet
sich der Gedanke: Jede Tiergattung vermehrt sich
im Verhältnis zu ihren Unterhaltsmitteln und
kann sich nicht darüber hinaus vermehren. In
einer zivilisierten Gesellschaft unterliegen jedoch
nur die unteren Klassen diesem Gesetz. Wenn der
Arbeitslohn unter das Maß dessen sänke, was zur
Befriedigung der Nachfrage nach Arbeitern er-
fordert wird, so würde diese Nachfrage nach Hän-
den ihn erhöhen; und wenn er dauernd höher
stiege, so würde ihn die übermäßige Vermehrung
der Arbeiterbevölkerung wieder hinabdrücken. „Wie
reichliche Belohnung der Arbeit die Wirkung zu-
nehmenden Volkswohlstands ist, so ist sie auch
dessen Kennzeichen. Dürftiges Einkommen der
Arbeitermasse ist das Kennzeichen der Stagna-
tion und Hungerelend das Zeichen des Rückgangs."
Wie wenig ihn die persönliche Wohlfahrt des Ar-
beiterstands berührte, zeigt die charakteristische
Tatsache, daß er ganz unbefangen die Frage er-
örtert:
„Muß der Eintritt einer Verbesserung der Lage
der unteren Volksklassen als ein Vorteil oder als
ein Schaden für die Gesellschaft angesehen werden?
Auf den ersten Blick scheint die Frage äußerst einfach.
Gefinde, Lohnarbeiter und Handwerker jeder Art
machen den größten Teil der Bevölkerung jedes
Staats aus. Kann man nun jemals als einen Nach-
teil für das Ganze ansehen, was die Lage des grö-
ßeren Teils bessert? Wie könnte ein Gemeinwesen
glücklich und wohlhabend sein, wenn die Mehrzahl
seiner Glieder zu Armut und Elend verurteilt wäre?
Zudem ist es billig, daß diejenigen, welche den ge-
samten Körper der Nation mit Nahrung, Kleidung
und Wohnung versehen, von dem Ertrag ihrer
Arbeit so viel bekommen, daß sie selbst leidlich
Frnä , gekleidet und wohnlich untergebracht
nd.“
Smith sagt das nicht aus hartherziger Gefühl-
losigkeit, sondern weil für ihn das Ganze der
Nation nur eine leere Abstraktion ist, die ihn ver-
hindert, zu erkennen, daß das persönliche Wohl-
befinden wichtiger ist als die Vermehrung der
Sachgüter. Nicht mit Unrecht hat man im Hin-
blick auf jene Scheu vor unerschrockenem Blick in
die Abgründe des Menschenlebens an Smiths
großem Werke einen „Anstrich schwungloser Phi-
listerhaftigkeit“ gefunden. Wie sollte auch bei der
Idee, daß die Welt dann am besten fährt, wenn
jeder nur für sich selbst sorgt, Begeisterung auf-
kommen! Am meisten freilich haben dem Andenken
Smiths seine Schüler geschadet, oder vielmehr
diejenigen, welche sich mit Unrecht seine Schüler
nannten. Sie haben seine Lehre von der ökonomi-
schen Freiheit zu dem öd-mechanischen Laissez
aller, laissez passer herabgewürdigt; sie haben
seine, in ihrem Wesen freilich falsche Kapital-
theorie, die ohnehin durch das verkehrte Spar-
prinzip einem ungesunden ÜUberwuchern des (histo-
risch natürlich an sich notwendigen) Kapitalismus
Vorschub zu leisten geeignet war, für die Zwecke
des Manchestertums skrupellos ausgebeutet; sie
Smith.
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haben, wie die Schule Ricardos, seine Kritik des
Agrikultursystems zu der Ungeheuerlichkeit über-
trieben, daß die Natur unproduktiv, das Kapital
allein produktiv sei, daß also der Volkswohlstand
einzig auf den Kapitalisten beruhe, und die Ar-
beiter nur als Arbeitswerkzeuge zu gelten haben;
sie haben seine Erörterungen über die Faktoren des
Lohns, den er durch das Verhältnis zwischen dem
Angebot von Arbeitskräften und der Höhe des deren
Leistungen heischenden Kapitals unter Außeracht-
lassung der produktiven und namentlich der ethischen
Macht der Arbeit reguliert werden läßt, zu dem
Widersinn eines „ehernen Lohngesetzes“ gesteigert,
das den Klassenkampf notwendig erzeugen mußte.
Am wenigsten können die Sozialisten sich rühmen,
die Kinder seines Geistes zu sein, dem das eigent-
lich soziale Empfinden ganz abging; und doch ist
nicht zu leugnen, daß seine Werttheorie, die den
Tauschwert der Waren auf die Arbeit zurückführt
und den Arbeiter dem Rohstoffe einen Wert zu-
setzen läßt, aus dem der Kapitalist seinen Profit
ziehe, die Keime enthält, aus der auf dem Weg
über Ricardo unter der Hand Karl Marx die so-
zialistische Mehrwerttheorie geworden ist — man
beachte nur, wie eingehend Marx im „Kapital"“
sowohl wie in den „Theorien über den Mehrwert"“
sich mit Smith beschäftigt; daß Smith ökonomi-
scher Materialismus die materialistische Geschichts-
auffassung des Marxismus erzeugen mußte, ist
bereits erwähnt worden. — So stehen bei Smith
großen Vorzügen ebenso große Fehler gegenüber,
die aber in der Hauptsache die Fehler seiner Zeit
waren. „Gleichwohl“, so sagt Roscher, die Be-
urteilung des Mannes und seiner Leistungen ab-
schließend, „dürfte es in der Geschichte überhaupt
wenig Beispiele geben, wo eine ganze Wissenschaft
durch einen Mann und ein Buch desselben in so
kurzer Zeit einen so großen und nachhaltigen Fort-
schritt gemacht hätte wie die Volkswirtschaftslehre
durch das Hauptwerk Adam Smiths: einen Fort-
schritt ebenso bedeutsam für den Umfang wie für
die Tiefe, für die Methode wie für das System,
für das Ganze wie für das einzelne, für die Theo-
rie wie für die Praxis der Wissenschaft.“ Worin
dieses Verdienst im wesentlichen liegt, das drückt
Eisenhart in seiner Geschichte der Nationalökono-
mik so aus:
„Wenn von diesem einzigen Werk eine bildende
Kraft wie in dichten Lichtstrahlen für die Umge-
staltung der Wissenschaft und des Lebens ausge-
gangen ist, so wird man diese Erscheinung zum
großen Teil in der glücklichen Begründung eines
populären Prinzips zu suchen haben, mit der es sich
nunmehr zum planmäßigen, gemeinverständlichen
Vorkämpfer der Aufklärung und Freiheit macht;
zum andern aber ebenso in der erschöpfenden Voll-
ständigkeit, mit der es zum erstenmal alle Teile
seines Gebiets umspannt, mit seinen Prinzipien
durchleuchtet und in finnlicher Anschaulichkeit zu
einem überzeugenden Ganzen verknüpft. So hat es
seinem Urheber zugleich den Ruhm des eigentlichen
Vaters der Wissenschaft begründet, mit dem sie aus