1227
zu einer politischen Partei erstrebt die Soziali-
sierung der Gesellschaft, d. h. die politische und
wirtschaftliche Durchführung des Sozialismus.
Das wirtschaftliche Ziel ist die Vergesellschaftung
der Produktionsmittel durch Ubertragung des
seitherigen Privateigentums an denselben auf die
Gesellschaft. Die Verwirklichung dieses Ziels be-
deutet die Umwandlung der Gesellschaft in eine
große Produktionsgemeinschaft; damit ist aber
auch zugleich das politische Ziel der Sozialdemo-
kratie erreicht: die Aufhebung der klassen-staat-
lichen Organisation der Gesellschaft und die volle,
absolute Herrschaft des Volks. Die Klassenunter-
schiede hören auf, der Staat stirbt von selbst ab,
weil es eines Eingreifens einer Staatsgewalt in
die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dinge
nicht mehr bedarf. So durchdringen sich das
politische und das wirtschaftliche Ziel der Sozial-
demokratie gegenseitig aufs innigste. Um dieses
Ziel zu erreichen, strebt die Sozialdemokratie in
der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung nach der
politischen Macht, um den nach dem Marxistischen
Dogma mit Naturnotwendigkeit sich vollziehenden
Sozialisierungsprozeß der Gesellschaft zu be-
schleunigen.
II. Geschichke. Mit dem Mißlingen der Re-
volution von 1848 und unter dem Druck der in
den folgenden Jahren einsetzenden Reaktion war
auch das Schicksal der eben damals sich regenden
Arbeiterbewegung (Weitling) besiegelt. Marr'
kommunistisches Manifest aus dem Jahr 1848
blieb bis auf weiteres für Deutschland ohne Be-
deutung. Die nach 1850 in größerem Maß ein-
setzende Industrialisierung Deutschlands schuf indes
ein zahlreiches Proletariat, welches den Boden für
eine neue Arbeiterbewegung bildete. 1863 suchte
Ferdinand Lassalle eine deutsche Arbeiterpartei zu
schaffen und gründete zu diesem Zweck den „All-
gemeinen deutschen Arbeiterverein“, der zunächst
das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht an-
strebte und in den Produktivassoziationen der
Arbeiter mit Staatsunterstützung ein Mittel sah,
um dem Arbeiter den vollen Arbeitsertrag zu
sichern.
Neben dieser Lassalleschen Arbeiterpartei begann
aber bald eine andere sich geltend zu machen,
welche schließlich den Sieg davontrug. In London
hatte Marx die „Internationale Arbeiterassozia-
tion“ organisiert. Ganz im Gegensatz zu Lassalle
erklärte Marx, das Proletariat dürfe sich nicht
auf doktrinäre Experimente, wie Produktivasso-
ziationen einlassen, sondern müsse danach streben,
die ganze Gesellschaft „mit ihren eignen großen
Gesamtmitteln umzuwälzen"“. In Deutschland
suchte Wilhelm Liebknecht für die Marxsche Inter-
nationale Propaganda zu machen, ohne daß es
ihm jedoch gegenüber der dominierenden Persön=
lichkeit des Agitators Lassalle gelungen wäre, be-
sondere Erfolge zu erzielen. Zunächst faßte er
festen Fuß in dem von der Fortschrittspartei 1863
gegründeten „Verband deutscher Arbeitervereine",
Sozialdemokratie.
1228
dessen Vorsitzender August Bebel von Liebknecht für
den Marxismus gewonnen wurde. 1869 beriefen
Bebel und Liebknecht einen Arbeiterkongreß nach
Eisenach, und hier konstituierte sich eine „Sozial=
demokratische Arbeiterpartei“, welche sich nach dem
angenommenen Programm als Zweig der Inter-
nationalen Arbeiterassoziation betrachtete und deren
Bestrebungen sich anschloß. So besaß Deutschland
zwei sozialistische Arbeiterorganisationen, den
„Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“ Lassalles
unter dem Vorsitz v. Schweitzers, auch kurzweg als
„Lassalleaner“ bezeichnet, und die Marx-Liebknecht-
Bebelsche „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“.
Trotzdem das Eisenacher Programm auch einem
Teil der Forderungen der „Lassalleaner“ Rech-
nung trug, ließen sich diese nicht gleich gewinnen:
vielmehr kam es zwischen beiden Richtungen zu
heftigen Kämpfen, welche erst unter dem Druck der
polizeilichen Verfolgung ihr Ende fanden.
Das Einschreiten der Staatsgewalt begann mit
dem „Leipziger Kommunistenprozeß“ 1872 gegen
Liebknecht, Bebel und Hepner, welche als Redak-
teure des in Leipzig erscheinenden „Volksstaates“
die Pariser Kommune verherrlicht hatten und nun-
mehr zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt
wurden. Bei der Reichstagswahl 1874 gingen
beide Richtungen für sich vor, und so gewannen
die „Lassalleaner“ drei, die „Eisenacher“ sechs
Mandate mit zusammen 3400000 Stimmen. Nun-
mehr glaubte die Polizei energischer eingreifen zu
sollen und der nach Berlin berufene Staats-
anwalt v. Tessendorf setzte mit Heranziehung des
§ 8 des preußischen Vereinsgesetzes, welcher eine
gemeinsame Organisotion politischer Vereine ver-
bot, die Unterdrückung des „Allgemeinen deutschen
Arbeitervereins“ und der „Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei“ durch. Damit war das letzte Hin-
dernis für eine Vereinigung der beiden Rich-
tungen behoben. Auf dem Kongreß zu Gotha
(1875) wurde sie perfekt, freilich auf Grund eines
Kompromißprogramms, welches den vom strengen
Marxismus divergierenden Anschauungen der „Las-
salleaner“ Rechnung trug, weshalb es die Zu-
stimmung von Marx nicht fand; es wurde viel-
mehr von ihm als ein „verwerfliches und die
Partei demoralisierendes Programm“ bezeichnet.
Mit dem Gothaer Tag hörte der Lassalleanismus
auf. Daß die Verschmelzung perfekt war, zeigte
der Ausfall der Reichstagswahlen von 1877, wo
4930000 sozialistische Stimmen abgegeben wurden.
Die Kaiserattentate von 1878 (Hödel. Nobiling)
gaben Bismarck Veranlassung zur Einbringung
eines Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemo-
kratie, welches 18378 von der liberalen Moajorität
des Reichstags angenommen wurde. die Ausbrei-
tung der Sozialdemokratie aber so wenig hin-
derte, daß nach seinem Fall am 30. Sept. 1890
nach einer zwölfjährigen Dauer die Reichstags-
wahlen desselben Jahres 1 427.000 sozialistische
Stimmen aufwiesen, ein Beweis, wie sehr das
Gesetz seinen Zweck verfehlt hatte. Während der