Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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zu einer politischen Partei erstrebt die Soziali- 
sierung der Gesellschaft, d. h. die politische und 
wirtschaftliche Durchführung des Sozialismus. 
Das wirtschaftliche Ziel ist die Vergesellschaftung 
der Produktionsmittel durch Ubertragung des 
seitherigen Privateigentums an denselben auf die 
Gesellschaft. Die Verwirklichung dieses Ziels be- 
deutet die Umwandlung der Gesellschaft in eine 
große Produktionsgemeinschaft; damit ist aber 
auch zugleich das politische Ziel der Sozialdemo- 
kratie erreicht: die Aufhebung der klassen-staat- 
lichen Organisation der Gesellschaft und die volle, 
absolute Herrschaft des Volks. Die Klassenunter- 
schiede hören auf, der Staat stirbt von selbst ab, 
weil es eines Eingreifens einer Staatsgewalt in 
die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dinge 
nicht mehr bedarf. So durchdringen sich das 
politische und das wirtschaftliche Ziel der Sozial- 
demokratie gegenseitig aufs innigste. Um dieses 
Ziel zu erreichen, strebt die Sozialdemokratie in 
der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung nach der 
politischen Macht, um den nach dem Marxistischen 
Dogma mit Naturnotwendigkeit sich vollziehenden 
Sozialisierungsprozeß der Gesellschaft zu be- 
schleunigen. 
II. Geschichke. Mit dem Mißlingen der Re- 
volution von 1848 und unter dem Druck der in 
den folgenden Jahren einsetzenden Reaktion war 
auch das Schicksal der eben damals sich regenden 
Arbeiterbewegung (Weitling) besiegelt. Marr' 
kommunistisches Manifest aus dem Jahr 1848 
blieb bis auf weiteres für Deutschland ohne Be- 
deutung. Die nach 1850 in größerem Maß ein- 
setzende Industrialisierung Deutschlands schuf indes 
ein zahlreiches Proletariat, welches den Boden für 
eine neue Arbeiterbewegung bildete. 1863 suchte 
Ferdinand Lassalle eine deutsche Arbeiterpartei zu 
schaffen und gründete zu diesem Zweck den „All- 
gemeinen deutschen Arbeiterverein“, der zunächst 
das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht an- 
strebte und in den Produktivassoziationen der 
Arbeiter mit Staatsunterstützung ein Mittel sah, 
um dem Arbeiter den vollen Arbeitsertrag zu 
sichern. 
Neben dieser Lassalleschen Arbeiterpartei begann 
aber bald eine andere sich geltend zu machen, 
welche schließlich den Sieg davontrug. In London 
hatte Marx die „Internationale Arbeiterassozia- 
tion“ organisiert. Ganz im Gegensatz zu Lassalle 
erklärte Marx, das Proletariat dürfe sich nicht 
auf doktrinäre Experimente, wie Produktivasso- 
ziationen einlassen, sondern müsse danach streben, 
die ganze Gesellschaft „mit ihren eignen großen 
Gesamtmitteln umzuwälzen"“. In Deutschland 
suchte Wilhelm Liebknecht für die Marxsche Inter- 
nationale Propaganda zu machen, ohne daß es 
ihm jedoch gegenüber der dominierenden Persön= 
lichkeit des Agitators Lassalle gelungen wäre, be- 
sondere Erfolge zu erzielen. Zunächst faßte er 
festen Fuß in dem von der Fortschrittspartei 1863 
gegründeten „Verband deutscher Arbeitervereine", 
Sozialdemokratie. 
  
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dessen Vorsitzender August Bebel von Liebknecht für 
den Marxismus gewonnen wurde. 1869 beriefen 
Bebel und Liebknecht einen Arbeiterkongreß nach 
Eisenach, und hier konstituierte sich eine „Sozial= 
demokratische Arbeiterpartei“, welche sich nach dem 
angenommenen Programm als Zweig der Inter- 
nationalen Arbeiterassoziation betrachtete und deren 
Bestrebungen sich anschloß. So besaß Deutschland 
zwei sozialistische Arbeiterorganisationen, den 
„Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“ Lassalles 
unter dem Vorsitz v. Schweitzers, auch kurzweg als 
„Lassalleaner“ bezeichnet, und die Marx-Liebknecht- 
Bebelsche „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“. 
Trotzdem das Eisenacher Programm auch einem 
Teil der Forderungen der „Lassalleaner“ Rech- 
nung trug, ließen sich diese nicht gleich gewinnen: 
vielmehr kam es zwischen beiden Richtungen zu 
heftigen Kämpfen, welche erst unter dem Druck der 
polizeilichen Verfolgung ihr Ende fanden. 
Das Einschreiten der Staatsgewalt begann mit 
dem „Leipziger Kommunistenprozeß“ 1872 gegen 
Liebknecht, Bebel und Hepner, welche als Redak- 
teure des in Leipzig erscheinenden „Volksstaates“ 
die Pariser Kommune verherrlicht hatten und nun- 
mehr zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt 
wurden. Bei der Reichstagswahl 1874 gingen 
beide Richtungen für sich vor, und so gewannen 
die „Lassalleaner“ drei, die „Eisenacher“ sechs 
Mandate mit zusammen 3400000 Stimmen. Nun- 
mehr glaubte die Polizei energischer eingreifen zu 
sollen und der nach Berlin berufene Staats- 
anwalt v. Tessendorf setzte mit Heranziehung des 
§ 8 des preußischen Vereinsgesetzes, welcher eine 
gemeinsame Organisotion politischer Vereine ver- 
bot, die Unterdrückung des „Allgemeinen deutschen 
Arbeitervereins“ und der „Sozialdemokratischen 
Arbeiterpartei“ durch. Damit war das letzte Hin- 
dernis für eine Vereinigung der beiden Rich- 
tungen behoben. Auf dem Kongreß zu Gotha 
(1875) wurde sie perfekt, freilich auf Grund eines 
Kompromißprogramms, welches den vom strengen 
Marxismus divergierenden Anschauungen der „Las- 
salleaner“ Rechnung trug, weshalb es die Zu- 
stimmung von Marx nicht fand; es wurde viel- 
mehr von ihm als ein „verwerfliches und die 
Partei demoralisierendes Programm“ bezeichnet. 
Mit dem Gothaer Tag hörte der Lassalleanismus 
auf. Daß die Verschmelzung perfekt war, zeigte 
der Ausfall der Reichstagswahlen von 1877, wo 
4930000 sozialistische Stimmen abgegeben wurden. 
Die Kaiserattentate von 1878 (Hödel. Nobiling) 
gaben Bismarck Veranlassung zur Einbringung 
eines Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemo- 
kratie, welches 18378 von der liberalen Moajorität 
des Reichstags angenommen wurde. die Ausbrei- 
tung der Sozialdemokratie aber so wenig hin- 
derte, daß nach seinem Fall am 30. Sept. 1890 
nach einer zwölfjährigen Dauer die Reichstags- 
wahlen desselben Jahres 1 427.000 sozialistische 
Stimmen aufwiesen, ein Beweis, wie sehr das 
Gesetz seinen Zweck verfehlt hatte. Während der
	        
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