Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Dauer des Sozialistengesetzes hielt die Partei 
ihre Parteitage im Ausland, und zwar tagte 
sie 1880 in Wyden bei Offingen im Kanton 
Zürich. Bemerkenswert ist dieser Kongreß durch 
eine Programmänderung: hatte noch der Gothaer 
Kongreß im Programm das Anstreben des sozia- 
listischen Gesellschaftsstaats „mit allen gesetz- 
lichen Mitteln" betont, so ward das Wort „ge- 
setzlichen“ jetzt gestrichen, ein Echo des deutschen 
Sozialistengesetzes. Der folgende Kongreß fand 
1883 in Kopenhagen und der nächste 1887 in 
St Gallen statt, wo eine offizielle Absage an den 
Anarchismus beschlossen wurde. Nach Erlöschen 
des Sozialistengesetzes wurde schon Mitte Oktober 
desselben Jahrs der Parteitag in Halle abgehalten 
und eine Revision des Programms von Gotha als 
notwendig erachtet. Das neue Programm wurde 
im folgenden Jahr auf dem Parteitag zu Erfurt 
(1891) angenommen, womit dieser Parteitag eine 
besondere Bedeutung erhalten hat. 
III. Das Erfurter Programm, von Kautsky 
entworfen, als Paraphrase des Abschnitts „die ge- 
schichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumu- 
lation“ in Marx' „Kapital“, bedeutet den Sieg 
des Marxismus auf der ganzen Linie. Die 
materialistische, oder besser, ökonomische Geschichts- 
auffassung von Marx tritt schon im ersten Satz 
zutage: „Die ökonomische Entwicklung der bürger- 
lichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit 
zum Untergang des Kleinbetriebs, dessen Grund- 
lage das Privateigentum des Arbeiters an seinen 
Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter 
von seinen Produktionsmitteln und verwandelt 
ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die 
Produktionsmittel das Monopol einer verhältnis- 
mäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Groß- 
grundbesitzern werden.“ Als Schlußeffekt der 
gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung wird po- 
stuliert: „Nur die Verwandlung des kapitalisti- 
schen Privateigentums an Produktionsmitteln — 
Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Roh- 
stoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel — 
in gesellschaftliches Eigentum und die Umwand- 
lung der Warenproduktion in sozialistische, für 
und durch die Gesellschaft betriebene Produktion 
kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die 
stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaft- 
lichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen 
aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung 
zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und all- 
seitiger, harmonischer Vervollkommnung werde."“ 
Hatte das Gothaer Programm noch mit Rücksicht- 
nahme auf die „Lassalleaner“ das „eherne Lohn- 
gesetz“ anerkannt, so wird dieses jetzt völlig be- 
seitigt, nachdem schon auf dem Parteitag in Halle 
Liebknecht offen bekannt hatte: „Ein ehernes Lohn- 
gesetz, das mußten wir uns schon in Gotha sagen, 
existiert tatsächlich nicht. Der Ausdruck ist agi- 
tatorisch von Lassalle gebraucht worden und hat 
seinen Zweck auch herrlich erfüllt.“ Auch von den 
Produktivassoziationen, die Lassalle so sehr betont 
Sozialdemokratie. 
  
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hatte, ist keine Rede mehr. Ebensowenig aber 
findet der utopische Sozialismus, mit dem Bebel 
in seinem Buch „Die Frau“ so erfolgreich operiert 
hatte, Erwähnung. Auf Mitteilungen über den 
„Zukunftsstaat“ verzichtet die Sozialdemokratie 
endgültig. Das Erfurter Programm soll den vor- 
läufigen Abschluß der Entwicklung vom Utopis- 
mus zum wissenschaftlichen Sozialismus bedeuten. 
Dieser „wissenschaftliche Sozialismus“ ist aber 
nur der Marxistische Dogmatismus. Auch von der 
Entlohnung, für welche das Gothaer Programm 
noch die Formel gebraucht hatte: „nach gleichem 
Recht, jedem nach seinen vernunftgemäßen Be- 
dürfnissen“, ist keine Rede mehr, noch von dem 
Lassalleschen „jedem sein Arbeitsertrag“. Das Er- 
furter Programm umgeht diese Frage und begnügt 
sich mit dem Hinweis auf die wohltätige Wirkung 
des Kollektiveigentums. In seinem Kommentar 
zum Erfurter Programm verrät Kautsky nur: 
„Es ist ganz utopistisch gedacht, wenn man meint, 
es gelte, ein besonderes System der Verteilung 
auszutüfteln, das dann für ewige Zeiten maß- 
gebend sein solle. Auch auf diesem Gebiet, wie 
auf allen andern, wird die sozialistische Gesell- 
schaft keinen Sprung machen, sondern an das an- 
knüpfen, was sie vorfindet. Die Verteilung der 
Güter in einer sozialistischen Gesellschaft dürfte 
in absehbarer Zeit nur in Formen vor sich gehen, 
welche eine Fortentwicklung der heute bestehenden 
Lohnformen darstellen. Von diesen wird sie aus- 
gehen müssen. Und so wie die Formen des Ar- 
beitslohns nicht bloß der Zeit nach wechseln, 
sondern auch gleichzeitig für verschiedene Arbeits- 
zweige und in berschiedenen Gegenden verschiedene 
sind, so ist es gar nicht ausgeschlossen, daß in 
einer sozialistischen Gesellschaft je nach den ver- 
schiedenen historischen Entwicklungen und den Ge- 
wohnheiten, die in der Bevölkerung fortbestehen, 
und nach den wechselnden Bedürfnissen der Pro- 
duktion die mannigfaltigsten Formen der Ver- 
teilung der Produkte nebeneinander vorkommen 
werden!“ 
Ein Widerspruch mit dem Marxistischen Dog- 
matismus ist das Streben nach politischer Macht. 
Denn nach der Marxistischen ökonomischen Ge- 
schichtsauffassung treibt die heutige kapitalistische 
Gesellschaft mit Naturnotwendigkeit zur 
sozialistischen. Gleichwohl ist die Gewinnung der 
politischen Macht ein Hauptziel der Sozialdemo- 
kratie. Denn „sie kann“, wie es im Erfurter Pro- 
gramm ausgesprochen wird, „den Übergang der 
Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit 
nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen 
Macht gekommen zu sein“. „Ausgehend von diesen 
Grundsätzen fordert“, wie es im Erfurter Pro- 
gramm weiter heißt, „die Sozialdemokratie zu- 
nächst u. a.: Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- 
und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller 
über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne 
Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und 
Abstimmungen. Proportionalwahlsystem. Direkte
	        
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