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Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vor-
schlags= und Verwerfungsrechts. Selbstbestim-
mung und Selbstverwaltung des Volks in Reich,
Staat, Provinz und Gemeinde. Wahl der Be-
hörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und
Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuerbewilli-
gung. Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit.
Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Ent-
scheidung über Krieg und Frieden durch die Volks-
vertretung. Schlichtung aller internationalen
Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Weg. Ab-
schaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich-
rechtlicher Beziehung dem Mann unterordnen.“
Die irreligiöse, besser antireligiöse Weltanschauung
der Sozialdemokratie kommt zum Ausdruck in den
Forderungen: Erklärung der Religion zur Privat-
sache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffent-
lichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken.
Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der
öffentlichen Volksschulen.“ Nicht zu vergessen ist
in diesem Zusammenhang die materialistische Ge-
schichtsauffassung, welche die Negation der Reli-
gion bedeutet. Denn nach ihr sind die „Ideo-
logien“, d. h. Religion, Philosophie, nichts als
Widerspiegelungen der ökonomischen Verhältnisse;
für eine Offenbarung Gottes ist in diesem System
kein Platz mehr. Außerdem zwingt die Theorie
zur Verwerfung jeglicher hervorragenden geschicht-
lichen Persönlichkeit. „Ubermenschen" können nicht
anerkannt werden, am allerwenigsten als geistige
Führer und Wegweiser der Menschheit: daher die
Leugnung der geschichtlichen Existenz Christi und
die Erklärungsversuche einer „Entstehung des
Christentums“ durch sozialdemokratische Schrift-
steller (Kautsky, Maurenbrecher). Von dieser
Grundlage wollen auch die Revisionisten nicht ab-
weichen, und der letztgenannte erklärte, „die sozia-
listische Theorie ist unter allen Umständen Gegnerin
jeder positiven Religion“. Auch sozialpolitische
Forderungen enthält das Programm. Diese haben
agitatorischen Zweck. Die Sozialdemokratie sieht
nämlich auch in den weitestgehenden Reformen
auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsord-
nung nur Palliativmittel; nur von der Soziali-
sierung der Gesellschaft könne der Arbeiter eine
gründliche Besserung seiner Lage erwarten. Dem-
entsprechend hat die Sozialdemokratie auch bis
1899 gegen alle Arbeiterschutz= und Versicherungs-
gesetze gestimmt. Nur unter dem Zwang der in
den eignen Reihen laut werdenden Kritik an den
Marxistischen Dogmen und unter dem Druck der
erstarkenden Gewerkschaftsbewegung stimmte die
sozialdemokratische Fraktion des Reichstags 1900
für die Novelle zum Invaliditätsgesetz, 1901 für
die Novelle zum Unfallversicherungsgesetz und die
Novelle zur Gewerbeordnung, 1902 für die No-
velle zum Gewerbegerichtsgesetz, 1903 für die
Kinderschutzgesetzgebung und für den Antrag des
Zentrums, die Mehrerträge verschiedener Lebens-
mittelzölle für eine bis mindestens 1910 zuschaffende
Witwen= und Waisenversicherung zu verwenden.
Sozialdemokratie.
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IV. Iunere Krisen. Das Erfurter Programm
legt im Sinn seines Verfassers, des marxistischen
Dogmatikers Kautsky, die Partei auf den reinen
Marxismus fest. Es machten sich aber schon da-
mals Gegenströmungen bemerkbar.
1. Die revolutionären Elemente, welche in der
Hoffnung auf eine baldige, unter Umständen auch
gewaltsame Etablierung der sozialistischen Gesell-
schaftsordnung der Sozialdemokratie sich ange-
schlossen hatten, sahen in dem Versuch, den rein
proletarischen Charakter der Sozialdemokratie mit
Rücksicht auf das mittlere und Kleinbürgertum
weniger scharf hervortreten zu lassen, „einen Verrat
an der Sache des Proletariats, einen Kompromiß
mit der Masse auf Kosten des revolutionären
Prinzips“. Die Bannerträger dieser „Jungen“
waren der Schriftsetzer Werner, der Tapezier Wild-
berger und der Schriftsteller Wille. Die Oppo-
sition, bei der ein hohes Maß persönlicher Ge-
hässigkeit mit unterlief, wurde auf dem Parteitag
zu Erfurt von der Partei ausgeschlossen und
bildete in Berlin den Verein unabhängiger So-
zialisten. Die Bewegung verwarf alle und jede
positive Mitarbeit an der sozialpolitischen Gesetz-
gebung, da dies nicht der Weg sei, auf dem das
Proletariat an sein Ziel komme.
2. Die Frage der positiven Mitarbeit an der
staatlichen Sozialpolitik wurde für die Partei eine
Lebensfrage, je mehr die utopistischen Hoffnungen
nüchternen Erwägungen Platz machten, die Nah-
rung erhielten durch die vielfach erfolgreiche Tätig-
keit der Gewerkschaften wie auch durch die wissen-
schaftlichen Erörterungen der in die Partei ein-
getretenen Akademiker, welche meistens aus der
Schule der Kathedersozialisten hervorgegangen
waren. Die beständigen Verheißungen und Pro-
phezeiungen von dem nahe bevorstehenden großen
„Kladderadatsch“ verloren angesichts dessen ihre
Zugkraft auf die Massen. Es begann eine wach-
sende Gruppe innerhalb der Partei die sozial-
politische Gegenwartsarbeit ernstlich in
Angriff zu nehmen. Führer dieser Richtung wurde
Vollmar. In einer am 1. Juni 1891 in
München gehaltenen Rede „über die nächsten Auf-
gaben der Sozialdemokratie“ bekannte sich Voll-
mar zu einer gesetzlichen und friedlichen Reform-
arbeit. In den kaiserlichen Februarerlassen (1890)
müsse man den guten Willen der Regierung an-
erkennen, den bisher geführten Vernichtungskrieg
gegen die Sozialdemokratie einzustellen. Die Zeit
des grundsätzlichen Verneinens von allem und
jedem, was von der Regierung ausgehe, müsse ein
Ende haben. Vollmars Ausführungen gipfelten
in den Forderungen: 1) Weiterführung des Ar-
beiterschutzes; 2) Erringung eines wirklichen Ver-
einsrechts; 3) Ausschließung jeder staatlichen Ein-
mischung in die Lohnkämpfe; 4) Gesetzgebung
über die industriellen Kartelle; 5) Beseitigung der
Lebensmittelzölle. Der Regierung müsse die Er-
kenntnis beigebracht werden, daß nicht der Vor-
teil bevorzugter Stände, sondern das Wohl der
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