Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vor- 
schlags= und Verwerfungsrechts. Selbstbestim- 
mung und Selbstverwaltung des Volks in Reich, 
Staat, Provinz und Gemeinde. Wahl der Be- 
hörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und 
Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuerbewilli- 
gung. Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. 
Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Ent- 
scheidung über Krieg und Frieden durch die Volks- 
vertretung. Schlichtung aller internationalen 
Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Weg. Ab- 
schaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich- 
rechtlicher Beziehung dem Mann unterordnen.“ 
Die irreligiöse, besser antireligiöse Weltanschauung 
der Sozialdemokratie kommt zum Ausdruck in den 
Forderungen: Erklärung der Religion zur Privat- 
sache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffent- 
lichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. 
Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der 
öffentlichen Volksschulen.“ Nicht zu vergessen ist 
in diesem Zusammenhang die materialistische Ge- 
schichtsauffassung, welche die Negation der Reli- 
gion bedeutet. Denn nach ihr sind die „Ideo- 
logien“, d. h. Religion, Philosophie, nichts als 
Widerspiegelungen der ökonomischen Verhältnisse; 
für eine Offenbarung Gottes ist in diesem System 
kein Platz mehr. Außerdem zwingt die Theorie 
zur Verwerfung jeglicher hervorragenden geschicht- 
lichen Persönlichkeit. „Ubermenschen" können nicht 
anerkannt werden, am allerwenigsten als geistige 
Führer und Wegweiser der Menschheit: daher die 
Leugnung der geschichtlichen Existenz Christi und 
die Erklärungsversuche einer „Entstehung des 
Christentums“ durch sozialdemokratische Schrift- 
steller (Kautsky, Maurenbrecher). Von dieser 
Grundlage wollen auch die Revisionisten nicht ab- 
weichen, und der letztgenannte erklärte, „die sozia- 
listische Theorie ist unter allen Umständen Gegnerin 
jeder positiven Religion“. Auch sozialpolitische 
Forderungen enthält das Programm. Diese haben 
agitatorischen Zweck. Die Sozialdemokratie sieht 
nämlich auch in den weitestgehenden Reformen 
auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsord- 
nung nur Palliativmittel; nur von der Soziali- 
sierung der Gesellschaft könne der Arbeiter eine 
gründliche Besserung seiner Lage erwarten. Dem- 
entsprechend hat die Sozialdemokratie auch bis 
1899 gegen alle Arbeiterschutz= und Versicherungs- 
gesetze gestimmt. Nur unter dem Zwang der in 
den eignen Reihen laut werdenden Kritik an den 
Marxistischen Dogmen und unter dem Druck der 
erstarkenden Gewerkschaftsbewegung stimmte die 
sozialdemokratische Fraktion des Reichstags 1900 
für die Novelle zum Invaliditätsgesetz, 1901 für 
die Novelle zum Unfallversicherungsgesetz und die 
Novelle zur Gewerbeordnung, 1902 für die No- 
velle zum Gewerbegerichtsgesetz, 1903 für die 
Kinderschutzgesetzgebung und für den Antrag des 
Zentrums, die Mehrerträge verschiedener Lebens- 
mittelzölle für eine bis mindestens 1910 zuschaffende 
Witwen= und Waisenversicherung zu verwenden. 
Sozialdemokratie. 
  
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IV. Iunere Krisen. Das Erfurter Programm 
legt im Sinn seines Verfassers, des marxistischen 
Dogmatikers Kautsky, die Partei auf den reinen 
Marxismus fest. Es machten sich aber schon da- 
mals Gegenströmungen bemerkbar. 
1. Die revolutionären Elemente, welche in der 
Hoffnung auf eine baldige, unter Umständen auch 
gewaltsame Etablierung der sozialistischen Gesell- 
schaftsordnung der Sozialdemokratie sich ange- 
schlossen hatten, sahen in dem Versuch, den rein 
proletarischen Charakter der Sozialdemokratie mit 
Rücksicht auf das mittlere und Kleinbürgertum 
weniger scharf hervortreten zu lassen, „einen Verrat 
an der Sache des Proletariats, einen Kompromiß 
mit der Masse auf Kosten des revolutionären 
Prinzips“. Die Bannerträger dieser „Jungen“ 
waren der Schriftsetzer Werner, der Tapezier Wild- 
berger und der Schriftsteller Wille. Die Oppo- 
sition, bei der ein hohes Maß persönlicher Ge- 
hässigkeit mit unterlief, wurde auf dem Parteitag 
zu Erfurt von der Partei ausgeschlossen und 
bildete in Berlin den Verein unabhängiger So- 
zialisten. Die Bewegung verwarf alle und jede 
positive Mitarbeit an der sozialpolitischen Gesetz- 
gebung, da dies nicht der Weg sei, auf dem das 
Proletariat an sein Ziel komme. 
2. Die Frage der positiven Mitarbeit an der 
staatlichen Sozialpolitik wurde für die Partei eine 
Lebensfrage, je mehr die utopistischen Hoffnungen 
nüchternen Erwägungen Platz machten, die Nah- 
rung erhielten durch die vielfach erfolgreiche Tätig- 
keit der Gewerkschaften wie auch durch die wissen- 
schaftlichen Erörterungen der in die Partei ein- 
getretenen Akademiker, welche meistens aus der 
Schule der Kathedersozialisten hervorgegangen 
waren. Die beständigen Verheißungen und Pro- 
phezeiungen von dem nahe bevorstehenden großen 
„Kladderadatsch“ verloren angesichts dessen ihre 
Zugkraft auf die Massen. Es begann eine wach- 
sende Gruppe innerhalb der Partei die sozial- 
politische Gegenwartsarbeit ernstlich in 
Angriff zu nehmen. Führer dieser Richtung wurde 
Vollmar. In einer am 1. Juni 1891 in 
München gehaltenen Rede „über die nächsten Auf- 
gaben der Sozialdemokratie“ bekannte sich Voll- 
mar zu einer gesetzlichen und friedlichen Reform- 
arbeit. In den kaiserlichen Februarerlassen (1890) 
müsse man den guten Willen der Regierung an- 
erkennen, den bisher geführten Vernichtungskrieg 
gegen die Sozialdemokratie einzustellen. Die Zeit 
des grundsätzlichen Verneinens von allem und 
jedem, was von der Regierung ausgehe, müsse ein 
Ende haben. Vollmars Ausführungen gipfelten 
in den Forderungen: 1) Weiterführung des Ar- 
beiterschutzes; 2) Erringung eines wirklichen Ver- 
einsrechts; 3) Ausschließung jeder staatlichen Ein- 
mischung in die Lohnkämpfe; 4) Gesetzgebung 
über die industriellen Kartelle; 5) Beseitigung der 
Lebensmittelzölle. Der Regierung müsse die Er- 
kenntnis beigebracht werden, daß nicht der Vor- 
teil bevorzugter Stände, sondern das Wohl der 
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