Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Allgemeinheit das wahre Staatsinteresse sei. „Es 
wird sehr viel vom Vorgehen der Sozialdemo- 
kratie, von ihrer Kraft und Entschiedenheit wie 
von ihrer geschickten und folgerichtigen Benutzung 
der tatsächlichen Verhältnisse abhängen, daß dieser 
Gedanke in erster Reihe in der Arbeiterwelt, aber 
auch darüber hinaus bei den Einsichtigen in allen 
Schichten immer mehr Wurzel faßt und sich Gel- 
tung verschafft. Je friedlicher, je geordneter, 
organischer diese Entwicklung vor sich geht, desto 
besser für uns und das Gemeinwesen.“ Mit 
diesem Programm, nach welchem die sozialdemo- 
kratischen Abgeordneten im bayrischen Landtag 
unter Vollmars Führung sich richteten, war der 
revolutionäre Boden völlig verlassen. Denn je 
mehr praktische Gegenwartsarbeit, um so geringer 
wird die Aussicht auf die Endkatastrophe der Ge- 
sellschaft. Der große „Kladderadatsch“, von dem 
einst Bebel prophezeite, schwindet in immer weitere 
Fernen. Die „naturnotwendige Verelendung“ 
macht dem Gegenteil Platz. Man versteht, wes- 
halb die eingeschworenen Marxisten dagegen oppo- 
nieren mußten! Es kam auf dem Parteitag zu 
Erfurt zu heftigen Auseinandersetzungen; aber da 
das schroffe Auftreten, welches man den „Jungen“ 
gegenüber zeigte, bei dem großen Anhang Voll- 
mars nicht angängig war, einigte man sich auf 
eine Kompromißresolution dahin, daß „fest und 
entschieden im Sinn des Parteiprogramms ge- 
wirkt werden solle, ohne auf Konzessionen seitens 
der herrschenden Klasse zu verzichten“. Ebenso 
suchte man die aus gleichen Gründen entstandene 
Diskussion über Staatssozialismus beiseite zu 
schieben durch eine auf dem Parteitag zu Berlin 
(1892) angenommene Resolution, wonach der 
Staatssozialismus „als seinem innersten Wesen 
nach konservativ“ und darum mit der Sozial- 
demokratie in „unversöhnlichem Gegensatz“ ab- 
gewiesen wurde. 
3. Betonte diese Gegenströmung die Praxis der 
Partei, so wurde eine andere Opposition noch be- 
denklicher, weil sie die den Sozialismus grund- 
legenden Dogmen des Marxismus zum Gegen- 
stand eines wissenschaftlichen Angriffs machte: es 
ist die Opposition, welche Eduard Bernstein 
gegen den Marxismus erhob. Die Aufstellungen 
von Marx über die fortschreitende Akkumulation 
des Kapitals, die Verelendung der Massen, die in 
immer kürzeren Pausen eintretenden Wirtschafts- 
krisen usw., welche im Grund nur Generalisationen 
der von Marx am Anfang der kapitalistischen 
Wirtschaftsepoche gemachten Beobachtungen waren, 
konnten solange mit einigem Schein des Rechts 
verteidigt werden, als keine gegenteiligen Tatsachen 
beobachtet wurden; sobald aber Tatsachen sich 
zeigten, welche nicht in das aufgestellte Schema 
paßten, mußte man entweder dieses Schema mo- 
difizieren oder blinde Unterwerfung unter die 
Marrxistischen Dogmen fordern. Bernstein hatte 
in England Gelegenheit, die Entwicklung des Ka- 
pitalismus zu beobachten, und seine Beobachtungen 
Sozialdemokratie. 
  
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führten ihn zu einer Kritik des Marxismus, welche 
er in den Jahren 1896/98 unter dem Titel „Pro- 
bleme des Sozialismus“ in der „Neuen Zeit“ 
publizierte. Die nächste Folge war die große Bern- 
steindebatte auf dem Parteitag in Stuttgart 1898, 
wo Bernstein an Wolfgang Heine, Eduard David 
und Vollmar lebhafte Unterstützung fand. Bern- 
stein setzte seine Kritik des Marxismus fort in der 
Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus 
und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ (1899), 
in welcher er den historischen Materialismus be- 
deutend einschränkte, die Wertlehre, die Hypothese 
von der zunehmenden Konzentration des Kapitals 
und der Verelendung der Massen vollständig preis- 
gab und die Folgerungen zog für das weitere 
praktische Verhalten der Sozialdemokratie. An- 
statt auf den großen Zusammenbruch zu warten, 
sei es besser, positiv für die Hebung der Arbeiter- 
klasse zu arbeiten. Diese Kritik Bernsteins war 
um so bedeutsamer, als er zu den orthodoxesten 
Marxisten gezählt und von Marx selbst in seine 
Gedankenwelt eingeführt worden war. Wie wenig 
die orthodoxen Marxisten Bernstein entgegenzu- 
halten hatten, zeigt Kautskys Schrift „Bernstein 
und das sozialdemokratische Programm“ (1899). 
Der Parteitag von Hannover (1899) bewies, daß 
der „Bernsteinianismus“ innerhalb der Partei 
sehr an Boden gewonnen hatte; traten doch an- 
gesehene Parteigenossen, wie Heine, David, v. Voll- 
mar, v. Elm, Frohme, für Bernstein ein, so daß 
als Ausgleich nur eine Kompromißresolution 
übrig blieb, welche beide Teile, die Bebel-Kauts- 
kysche wie die Bernsteinsche Richtung, unterzeichnen 
konnten. Die Bernsteinsche Richtung, die eine 
Niederlage auf diesem Parteitag entschieden in 
Abrede stellte, zog weitere Kreise; in den „Sozia- 
listischen Monatsheften“ schuf sie sich ein eignes 
Organ, dessen wachsende Abonnentenzahl die Ver- 
treter der alten Marxistischen Richtung, deren 
Organ die „Neue Zeit“ ist, auf dem Parteitag 
zu München (1902) zu einem heftigen Vorstoß 
gegen die neue Richtung veranlaßte; letztere be- 
hauptet jedoch ihr Existenzrecht innerhalb der 
Partei mit aller Energie. 
4. Einen weiteren Angriffspunkt zur sozialisti- 
schen Kritik an dem Marxismus gab die von diesem 
aufgestellte Behauptung über die Entwicklung der 
Landwirtschaft, welche, wie es immer klarer 
zutage tritt, in einer dem Marxismus gerade 
entgegengesetzten Richtung verläuft. Den haupt- 
sächlichsten Anstoß zu dieser Kritik gab das immer 
fühlbarer werdende Bedürfnis nach einem besondern 
Agrarprogramm. Durch dieses sollte die bäuer- 
liche grundbesitzende Bevölkerung gewonnen wer- 
den, welche durch die von der industriellen Arbeiter- 
schaft erhobene Forderung der Expropriation eher 
abgestoßen wurde, während man der Gewinnung 
der Landarbeiter sicher zu sein glaubte. So kam es 
zu der Agrardebatte auf dem Parteitag zu Frank- 
furt (1894), welche mit der Einsetzung einer Agrar- 
kommission (mit drei Unterausschüssen, je einem
	        
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