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Allgemeinheit das wahre Staatsinteresse sei. „Es
wird sehr viel vom Vorgehen der Sozialdemo-
kratie, von ihrer Kraft und Entschiedenheit wie
von ihrer geschickten und folgerichtigen Benutzung
der tatsächlichen Verhältnisse abhängen, daß dieser
Gedanke in erster Reihe in der Arbeiterwelt, aber
auch darüber hinaus bei den Einsichtigen in allen
Schichten immer mehr Wurzel faßt und sich Gel-
tung verschafft. Je friedlicher, je geordneter,
organischer diese Entwicklung vor sich geht, desto
besser für uns und das Gemeinwesen.“ Mit
diesem Programm, nach welchem die sozialdemo-
kratischen Abgeordneten im bayrischen Landtag
unter Vollmars Führung sich richteten, war der
revolutionäre Boden völlig verlassen. Denn je
mehr praktische Gegenwartsarbeit, um so geringer
wird die Aussicht auf die Endkatastrophe der Ge-
sellschaft. Der große „Kladderadatsch“, von dem
einst Bebel prophezeite, schwindet in immer weitere
Fernen. Die „naturnotwendige Verelendung“
macht dem Gegenteil Platz. Man versteht, wes-
halb die eingeschworenen Marxisten dagegen oppo-
nieren mußten! Es kam auf dem Parteitag zu
Erfurt zu heftigen Auseinandersetzungen; aber da
das schroffe Auftreten, welches man den „Jungen“
gegenüber zeigte, bei dem großen Anhang Voll-
mars nicht angängig war, einigte man sich auf
eine Kompromißresolution dahin, daß „fest und
entschieden im Sinn des Parteiprogramms ge-
wirkt werden solle, ohne auf Konzessionen seitens
der herrschenden Klasse zu verzichten“. Ebenso
suchte man die aus gleichen Gründen entstandene
Diskussion über Staatssozialismus beiseite zu
schieben durch eine auf dem Parteitag zu Berlin
(1892) angenommene Resolution, wonach der
Staatssozialismus „als seinem innersten Wesen
nach konservativ“ und darum mit der Sozial-
demokratie in „unversöhnlichem Gegensatz“ ab-
gewiesen wurde.
3. Betonte diese Gegenströmung die Praxis der
Partei, so wurde eine andere Opposition noch be-
denklicher, weil sie die den Sozialismus grund-
legenden Dogmen des Marxismus zum Gegen-
stand eines wissenschaftlichen Angriffs machte: es
ist die Opposition, welche Eduard Bernstein
gegen den Marxismus erhob. Die Aufstellungen
von Marx über die fortschreitende Akkumulation
des Kapitals, die Verelendung der Massen, die in
immer kürzeren Pausen eintretenden Wirtschafts-
krisen usw., welche im Grund nur Generalisationen
der von Marx am Anfang der kapitalistischen
Wirtschaftsepoche gemachten Beobachtungen waren,
konnten solange mit einigem Schein des Rechts
verteidigt werden, als keine gegenteiligen Tatsachen
beobachtet wurden; sobald aber Tatsachen sich
zeigten, welche nicht in das aufgestellte Schema
paßten, mußte man entweder dieses Schema mo-
difizieren oder blinde Unterwerfung unter die
Marrxistischen Dogmen fordern. Bernstein hatte
in England Gelegenheit, die Entwicklung des Ka-
pitalismus zu beobachten, und seine Beobachtungen
Sozialdemokratie.
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führten ihn zu einer Kritik des Marxismus, welche
er in den Jahren 1896/98 unter dem Titel „Pro-
bleme des Sozialismus“ in der „Neuen Zeit“
publizierte. Die nächste Folge war die große Bern-
steindebatte auf dem Parteitag in Stuttgart 1898,
wo Bernstein an Wolfgang Heine, Eduard David
und Vollmar lebhafte Unterstützung fand. Bern-
stein setzte seine Kritik des Marxismus fort in der
Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus
und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ (1899),
in welcher er den historischen Materialismus be-
deutend einschränkte, die Wertlehre, die Hypothese
von der zunehmenden Konzentration des Kapitals
und der Verelendung der Massen vollständig preis-
gab und die Folgerungen zog für das weitere
praktische Verhalten der Sozialdemokratie. An-
statt auf den großen Zusammenbruch zu warten,
sei es besser, positiv für die Hebung der Arbeiter-
klasse zu arbeiten. Diese Kritik Bernsteins war
um so bedeutsamer, als er zu den orthodoxesten
Marxisten gezählt und von Marx selbst in seine
Gedankenwelt eingeführt worden war. Wie wenig
die orthodoxen Marxisten Bernstein entgegenzu-
halten hatten, zeigt Kautskys Schrift „Bernstein
und das sozialdemokratische Programm“ (1899).
Der Parteitag von Hannover (1899) bewies, daß
der „Bernsteinianismus“ innerhalb der Partei
sehr an Boden gewonnen hatte; traten doch an-
gesehene Parteigenossen, wie Heine, David, v. Voll-
mar, v. Elm, Frohme, für Bernstein ein, so daß
als Ausgleich nur eine Kompromißresolution
übrig blieb, welche beide Teile, die Bebel-Kauts-
kysche wie die Bernsteinsche Richtung, unterzeichnen
konnten. Die Bernsteinsche Richtung, die eine
Niederlage auf diesem Parteitag entschieden in
Abrede stellte, zog weitere Kreise; in den „Sozia-
listischen Monatsheften“ schuf sie sich ein eignes
Organ, dessen wachsende Abonnentenzahl die Ver-
treter der alten Marxistischen Richtung, deren
Organ die „Neue Zeit“ ist, auf dem Parteitag
zu München (1902) zu einem heftigen Vorstoß
gegen die neue Richtung veranlaßte; letztere be-
hauptet jedoch ihr Existenzrecht innerhalb der
Partei mit aller Energie.
4. Einen weiteren Angriffspunkt zur sozialisti-
schen Kritik an dem Marxismus gab die von diesem
aufgestellte Behauptung über die Entwicklung der
Landwirtschaft, welche, wie es immer klarer
zutage tritt, in einer dem Marxismus gerade
entgegengesetzten Richtung verläuft. Den haupt-
sächlichsten Anstoß zu dieser Kritik gab das immer
fühlbarer werdende Bedürfnis nach einem besondern
Agrarprogramm. Durch dieses sollte die bäuer-
liche grundbesitzende Bevölkerung gewonnen wer-
den, welche durch die von der industriellen Arbeiter-
schaft erhobene Forderung der Expropriation eher
abgestoßen wurde, während man der Gewinnung
der Landarbeiter sicher zu sein glaubte. So kam es
zu der Agrardebatte auf dem Parteitag zu Frank-
furt (1894), welche mit der Einsetzung einer Agrar-
kommission (mit drei Unterausschüssen, je einem