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für Süd-, Mittel- und Norddeutschland) endete,
deren Programmentwurf jedoch von dem Partei-
tag zu Breslau (1895) verworfen wurde. Die
Partei als solche hat sich seitdem mit der Agrar-
frage nicht mehr befaßt; dagegen wurde die Mar-
ristische Lehre von dem naturnotwendigen Unter-
gang des landwirtschaftlichen Kleinbetriebs durch
die tatsächliche Entwicklung immer mehr Lügen
gestraft. Während Kautsky sich immer noch krampf-
haft an das Maxxistische Dogma anklammert,
haben Bernstein, Hertz und David dasselbe
angesichts des Tatsachenmaterials preisgegeben.
Letzterer konstatiert in seinem Werk „Sozialismus
und Landwirtschaft“ 1 (1903) 687 nach einer um-
fassenden Untersuchung: „Die Marxistische Lehre
von der Konzentration der Betriebe trifft für die
Landwirtschaft nicht zu.“
5. Auch die Stellung der Sozialdemokratie zur
Handelspolitik führte zu lebhaften Diskus-
sionen innerhalb der Partei (Parteitag zu Mainz
1900 und zu Lübeck 1901). Ausgehend von dem
von Marx ausgesprochenen Gedanken, daß „das
System der Handelsfreiheit die soziale Revolution
beschleunigt", schwärmt die Sozialdemokratie für
absolute Handelsfreiheit. Indes mußte die Er-
wägung und tatsächliche Beobachtung, daß da-
mit auch die Interessen des Arbeiterstands, der
in seinem Wohl und Wehe abhängig ist von dem
Stand der Industrie, schweren Gefahren aus-
gesetzt seien, zu einem Gesinnungswechsel führen.
Die diesbezügliche Schwenkung wurde eingeleitet
durch Calwer, welcher auf dem Parteitag zu Mainz
gegen den Freihandel Stellung nahm in einer
Rede, die er herausgab unter dem Titel: „Arbeits-
markt und Handelsverträge"“ (1901), und an deren
Anfang er den schwerwiegenden Satz stellte: „Die
Sozialdemokratie als eine freihändlerische Partei
ansprechen zu wollen, zeugt von einer vollständigen
Verkennung des Wesens des Sozialismus. Denn
Freihandel bedeutet, auf dem Weltmarkt den
Starken gegen den Schwachen, den Gerüsteten
gegen den Ungerüsteten, den Ausbeuter gegen den
Ausgebeuteten losgehen zu lassen, ohne daß die
Staatsmacht in diesem Wettstreit irgendwie mo-
derierend und ausgleichend einspringen dürfte.
Nun liegt es aber im Wesen des Sozialismus,
in dem Konkurrenzkampf aller gegen alle zugunsten
des schwächeren Teils zu intervenieren.“ Die
jüngst durch Mehring erfolgte Herausgabe der
nachgelassenen Schriften von Marx und Engels
zeigt aber, daß auch Marx und Engels selbst die
Unhaltbarkeit ihres theoretischen freihändlerischen
Standpunkts eingesehen haben, wie auch die heu-
tigen Führer der Sozialdemokratie mehr und mehr
sich zu Konzessionen an die Schutzzollpolitik ge-
drängt sehen. Die Revisionisten (Calwer, Schip-
pel, vgl. dessen Broschüre „Amerika und die Han-
delsvertragspolitik“ (/1905)) sind Gegner der
seitherigen freihändlerischen Haltung der Partei.
Daß ein angemessener Zollschutz nicht bloß in den
Interessen der unmittelbaren Produzenten, sondern
Sozialdemokratie.
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auch der Arbeiter selbst gelegen, kann niemand
übersehen, der sich ernstlich mit den betreffenden
Fragen befaßt. Diese Erkenntnis, zu welcher die
Macht der Tatsachen zwingt, bedeutet abermals
eine Preisgabe des Marxistischen Dogmas.
6. Die Frage, wie die Sozialdemokratie sich
zur Budgetbewilligung zu stellen habe,
wurde zur Diskussion gestellt durch das Vorgehen
der sozialdemokratischen Abgeordneten der bayri-
schen Kammer, welche 1899 das Budget bewilligt
hatten mit der von Vollmar gegebenen Motivie-
rung: „Wir wollen das Gemeinwesen nicht zer-
stören, sondern es uns und dem Volk erobern.“
Ein bayrischer Parteitag stellte sich auf seiten der
Abgeordneten, während Bebel auf dem Parteitag
in Frankfurt (1894) eine prinzipielle Ablehnung
des Budgets forderte. Zu einer definitiven Ent-
scheidung kam es auf dem Parteitag nicht, so daß
jetzt jede sozialdemokratische Landtagsfraktion nach
ihrem Gutdünken vorgehen konnte. So schien es
wenigstens, bis plötzlich im Jahr 1910 die Bud-
getbewilligung durch die badischen Genossen die
ganze Frage wieder aufrollte und auf dem Partei-
tag zu Magdeburg zu überaus gereizten Debatten
führte, in denen äußerlich wenigstens die Radi-
kalisten das Feld behaupteten.
7. Der selbständigen Gewerkschaftsbewe-
gung standen die hervorragenden sozialdemo-
kratischen Parteiführer mißtrauisch gegenüber, da
sie in der der Gewerkschaftsbewegung wesentlichen
Gegenwartsarbeit die Gefahr der „Versumpfung"“
des sozialpolitischen Gedankens, eine Schwächung
des politischen Kampfes des Proletariats und
eine Art Nebenregierung innerhalb der Partei be-
fürchteten. Angesichts der überraschenden Ausbrei-
tung und Erstarkung der Gewerkschaftsbewegung
sah sich die Parteileitung indes genötigt, ihr Miß-
trauen zurückzudrängen undsich damit zu begnügen,
die Gewerkschaftsbewegung dem Parteiziel unter-
geordnet zu halten. Eine Spannung besteht jedoch
auch heute noch, die z. B. Ende 1902 sich äußerte,
als seitens der Partei den Gewerkschaften das
Recht bestritten wurde, Kandidaten für die Ge-
werbegerichtswahlen aufzustellen, und energisch der
Gedanke zurückgewiesen wurde, daß die Gewerk-
schaften selbständige Kandidaten für die Parla-
mentswahlen aufstellen dürften. Von einer Neu-
tralität in Weltanschauungsfragen kann bei den
„freien“ Gewerkschaften keine Rede sein. Wenn
auf irgend einem Gebiet, dann hat auf diesem
die von Gewerkschaftsführern oft genug abgegebene
Erklärung: „Partei und Gewerkschaft sind eins“,
ihre volle Geltung, wie denn auch die „freie“ Ge-
werkschaftspresse ganz in dem Antichristentum der
Partei segelt.
8. Zu erwähnen wäre noch die sozialdemokra-
tische Jugendbewegung, von dem badischen
Genossen Dr Frank gegründet, die eine rührige
Arbeit entfaltet und insbesondere durch Einrich-
ltung von Jugendbibliotheken propagandistisch zu
wirken sucht.