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9. Eine eigentliche sozialdemokratische Frauen-
bewegung gibt es seit 1900, wo in Mainz die
erste Konferenz sozialdemokratischer Frauen statt-
fand, der bald weitere folgten: München (1902),
Bremen (1904), Nürnberg (1908). Als Redne-
rinnen sind tätig: Klara Zetkin, Ottilie Bader,
Emma Ihrer, Luise Zietz u. a. Das Organ der
Bewegung ist die „Gleichheit“, von der Zetkin in
radikal klassenkämpferischem und antireligiösem
Geist geleitet. „Wir haben danach zu irachten,
ausgerüstet zu sein mit allen Rechten und Kennt-
nissen, mit aller Begeisterung, Opferfreudigkeit
und Energie, um wie in der Vergangenheit, so
auch in der Zukunft mit der Sozialdemokratie eins
zu sein in dem Wollen und Handeln, diese ver-
faulende und vermorschende Gesellschaftsordnung
möglichst bald dem Orkus zu überliefern“ (Zetkin).
V. Berbreitung. Die stärkste Verbreitung
hat die Sozialdemokratie in Deutschland gefunden.
Bei der Reichstagswahl von 1898 gewann sie 56
Mandate mit 2107000 Stimmen, 2 weitere
Mandate in den Nachwahlen, bei der Reichstags-
wahl von 1907: 81 Mandate mit 3259029
Stimmen, so daf die deutsche Sozialdemokratie die
stärkste der Welt ist und die Führung des inter-
nationalen Proletariats hat. Der französische So-
zialistenführer Guesde hat dies auf dem Parteitag
zu Halle offen anerkannt: „Deutschlands Prole-
tariat ist das am großartigsten organisierte, es steht
an der Spitze des Weltproletariats mit seinem
Programm, seiner Organisation und seinen Er-
folgen.“ Auch in den Landtagen der Bundes-
staaten hat die Sozialdemokratie Fuß gefaßt. In
19 Bundesstaaten zählt sie 186 Abgeordnete.
Ohne sozialdemokratische Abgeordnete sind nur die
beiden Mecklenburg, Braunschweig, Waldeck,
Schwarzburg-Sondershausen und Reuß ä. L. Im
einzelnen bietet sich folgendes Bild: Sachsen 25,
Bayern 21, Baden 20, Hamburg 20, Bremen
16, Württemberg 16, Lübeck 12. Sachsen-Mei-
ningen 9, Coburg-Gotha 8, Schwarzburg-Rudol-
stadt 7, Sachsen-Altenburg 7, Preußen 6, Hessen
5, Oldenburg 4, Sachsen-Weimar 4, Reuß j. L.
3, Schaumburg-Lippe, Lippe, Anhalt je 1. Einen
Maßstab für die Ausdehnung der Sozialdemo-
kratie gibt die Zunahme ihrer Presse. Die Zahl
der Parteiorgane beträgt heute 76, wobei die
Unterhaltungs= und wissenschaftlichen Zeitschriften,
wie „Neue Zeit“, „Sozialistische Monatshefte“,
„Dokumente des Sozialismus“. Witzblätter und
vor allem die Gewerkschaftspresse mit 65 Fach-
blättern nicht eingerechnet sind. In Osterreich
vollzog sich, entsprechend der langsameren Indu-
strialisierung des Landes, die Ausbreitung der
Sozialdemokratie in langsamerem Tempo. Der
Führer Dr Viktor Adler hat hier dem Marxismus
zum Sieg verholfen. Seit der Badenischen Wahl-
reform (1897) gelangte die Sozialdemokratie in
den Reichsrat. In Ungarnblieb die sozialdemo-
kratische Bewegung auf die wenigen Industrieorte
beschränkt; seit einem Jahrzehnt ist sie aber auch
Sozialdemokratie.
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unter die Landarbeiter auf den magyarischen Adels-
gütern gedrungen. Für Osterreich-Ungarn wird
für das Jahr 1900 die Zahl sozialdemokratischer
Wähler auf 780 000 angegeben. Nach Einführung
des neuen Wahlgesetzes 1907 wurden 1041 948
sozialdemokratische Stimmen abgegeben. Das in-
dustriell hoch entwickelte Belgien zählte 1906:
469000 sozialdemokratische Wähler. Neben der
großen Ausdehnung der Industrie ist hier aber zu
berücksichtigen die noch wenig angebaute sozial-
politische Gesetzgebung, was die Sozialdemokratie
auf das Gebiet der Gewerkschaftsorganisation als
des besten Agitationsmittels verwies. Die Führer
Anseele (Gent), Volders und Bertrand (Brüssel)
lassen sich deshalb die Gewerkschaftssache besonders
angelegen sein. Unter den Wirtschaftsgenossen-
schaften haben der „Vooruit“ in Gent und das
„Volkshaus“ in Brüssel eine über die Landes-
grenzen hinausgreifende Berühmtheit erlangt. In
Holland entfaltete der ehemalige protestantische
Prediger Domela Nieuwenhuis, welcher sich der
Sozialdemokratie (1876) anschloß und bald die
Führung übernahm, eine ungemein rührige Agi-
tation. 1894 trat Nieuwenhuis zu der „revolu-
tionären“ Richtung über, während die Marxistische
Richtung eine „sozialdemokratische Arbeiterpartei“
konstituierte. 1909 wurden 82 300 Stimmen
gezählt. Frankreich, das klassische Land der
Revolution und des Putsches, sah in den 1840er
und 1850er Jahren sozialrevolutionäre Bewe-
gungen (Blanquisten). Für die Verbreitung so-
zialpolitischer Gedanken war Proudhon von
großem Einfluß. Der Proudhonismus wurde
durch den Marxismus abgelöst, für welchen Jules
Guesde eintrat. Er konstituierte den Partiouvrier,
während eine sozialreformerische Richtung, die
„Possibilisten“, unter Brousse zusammentrat. Wie-
wohl Frankreich 1902 die im Verhältnis zur deut-
schen Sozialdemokratie geringe Zahl von 8600000
Wählern aufwies, ist die Sozialdemokratie in
Frankreich für das politische Leben ein bedeutsamer
Faktor, weil sie zur Regierungsmehrheit gehört.
Ein von Jaures auf dem Internationalen Sozia-
listenkongreß von Paris (1900) unternommener
Versuch, die verschiedenen sozialistischen Gruppen
zu vereinigen, ist gescheitert. In der Schweiz
wurde 1889 eine „Sozialdemokratische Partei der
Schweiz“ gegründet neben dem Grütliverein,
einer mit kleinbürgerlichen Elementen stark durch-
setzten Arbeiterorganisation. Eine Verschmelzung
beider wurde 1901 vollzogen, doch ist die schwei-
zerische Sozialdemokratie vorwiegend eine soziale
Reformpartei mit positiver Gegenwartsarbeit. Im
ganzen wurden hier 1902 rund 100 000 Stimmen
gezählt. In Italien ist die Domäne der So-
zialdemokratie Oberitalien, das Hauptindustrie-
gebiet der Halbinsel. Im Jahr 1909 zählte man
338 885 sozialistische Stimmen. Neuerdings hat
die Sozialdemokratie auch in der Landbevölke-
rung große Verbreitung gefunden. Der Führer
der italienischen Sozialdemokratie ist zurzeit der