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völkerung anstrebt, kann also in diesen Fällen
nicht die Rede sein. Auch die Organisation der
ältesten christlichen Kirche hat mit nichten einen
sozialistischen Charakter getragen. Bestand doch
unter den vom Feuer heiliger christlicher Liebe er-
füllten Gläubigen durchaus keine Gemeinschaft
des Eigentums, keine gemeinsame Organisation
der Produktion, und war es doch nur eine Folge
freien Entschlusses, wenn die Mitglieder der Ge-
meinde sich zu gemeinschaftlichem Gebrauch ihres
Einkommens verstanden. Am allerwenigsten kann
aber davon die Rede sein, daß das Christentum
der ältesten Zeiten ein allgemeines, seine Anhänger
zur Gütergemeinschaft und zur Gemeinsamkeit des
Lebens oder wenigstens der Mahlzeiten u. dgl.
verpflichtendes Gebot aufgestellt hätte.
Die unruhigen Tagedesbeginnenden 16. Jahrh.,
die Epoche der Kirchentrennung war es, während
welcher Thomas Morus seine Utopia verfaßte.
In origineller, wiederholt nachgeaymter Weise
(„Staatsromane") übte er Kritik an den gesell-
schaftlichen Zuständen seiner Zeit, indem er ihr
das Bild einer erdachten, in mancher Hinsicht
besseren Gesellschaft vorführte, ohne jedoch die
Verwirklichung einer sozialistischen Ordnung ernst-
lich zu wollen. Ungefähr um die nämliche Zeit
war die Hauptstadt Westfalens der Schauplatz des
Wütens Johannes Bockelsons und seiner Wieder-
täufer, welche Güter= und Weibergemeinschaft ein-
führten, deren Treiben aber bald ein ebenso trau-
riges Ende nahm wie einige Jahre zuvor dasjenige
Thomas Münzers und seiner Genossen. Die
schrecklichen Zustände, zu welchen diese Ausbrüche
an Wahnsinn grenzender Verblendung führten,
die grauenvolle Strenge, mit welcher sie unter-
drückt wurden, ließen an eine Wiederholung sozia-
listisch-kommunistischer Unternehmungen sobald
nicht denken. Doch hat auch das 17. Jahrh. theo-
retische Ausgeburten kommunistischer Träumereien
gesehen. Die Werke Tommaso Campanellas und
James Harringtons fallen in diese Zeit. Der er-
stere, ein aus Neapel stammender Dominikaner,
war im Herzen katholisch, aber ein verworrener
Brausekopf. Seine im Jahr 1623 erschienene
Civitas solis proklamierte eine kommunistische
Staatsordnung, für deren Verwirklichung er die
Hilfe der spanischen Monarchie in Anspruch nahm,
natürlich ohne Erfolg.
Erst die spätere Zeit des 18. Jahrh. mit seinem
Reichtum an Umsturzideen und an weltumgestal-
tenden Plänen brachte nicht nur sozialistische
Theorien, sondern auch Bestrebungen, welche auf
deren Verwirklichung ausgingen. Der Franzose
Morelly vertrat in seiner Basiliade ou nau-
frage des iles flottantes (1753) und in seinem
Code de la nature (1755) die extravagantesten
Anschauungen. Indem er wie Rousseau davon
ausging, daß die Menschen von Natur gut und
nur durch die Verkehrtheit der sozialen und ölo-
nomischen Entwicklung lasterhaft gemacht seien,
glaubte er, daß durch die Abschaffung des Privat-
Sozialismus.
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eigentums und durch die an dessen Stelle tretende
Gütergemeinschaft die Heilung der bestehenden
Schäden erreicht werden könnte. Solche und ähn-
liche Theorien mußten dazumal um so gefährlicher
wirken, als durch J.-J. Rousseaus Contrat social
mit seinen Gleichheitsideen und seiner Proklamie-
rung der Staatsomnipotenz der Boden für die
gefährlichsten Experimente vorbereitet war. Daher
konnte es denn nicht anders geschehen, als daß die
Zeit der französischen Revolution zu sozialistischen
Versuchen Anlaß gab, die um so mehr Anklang
fanden, als die revolutionäre Regierung nichts
Wesentliches zu einer wirklichen Besserung der Lage
des Arbeiterstandes leistete. Sie hatte durch die
im Jahr 1791 erfolgte Unterdrückung der Zünfte
und Innungen nur die Desorganisation in die
Reihen der Gewerbetreibenden getragen, ohne
etwas Neues an die Stelle des Abgeschafften zu
setzen. So fand denn Frangois Babeuf, als er
#im Jahr 1796 seine geheime Gesellschaft zur Ver-
wirklichung des Kommunismus gründete und zu
diesem Behuf eine Verschwörung anzettelte, bereit-
willige Anhänger. Doch kam es zu keinem ernst-
lichen praktischen Versuch, da die Verschwörung
entdelt wurde und ihr Urheber auf dem Schaffot
endete.
Die wenigen intelligenteren Köpfe, welche da-
mals dem Sozialismus huldigten, kamen bald zur
Einsicht, daß man mit diesem System in der
primitiven Form, wie es die Kommunisten des
18. Jahrh. vertreten hatten, denn doch nicht weit
komme. Eine etwas verständlichere Form des so-
zialistischen Grundprinzips war notwendig, wenn
man nicht alle Hoffnung auf eine weiter ausgrei-
fende Propaganda der darin beschlossenen Ideen
aufgeben wollte. Da kam den Vertretern dieser
Ideen von einer Seite Hilfe, von welcher dieselbe
nicht zu erwarten stand. Ein der höchsten franzö-
sischen Aristokratie entsprossener Mann, der Graf
Claude Henri St-Simon, ist es gewesen, der
ein wirkliches und relativ maßvolles System des
Sozialismus aufgestellt hat. Eine sorgfältig er-
zogene und mit Kenntnissen reich ausgestattete
Persönlichkeit wird nur in den seltensten Fällen
ein gänzlich brutales System zu dem ihrigen machen
können. St-Simon hätte vielleicht ein sozialer
Reformer im guten Sinn werden können, wäre
er der Schüler eines Le Play statt der eines
d'Alembert geworden, und hätte er nicht jener
zum großen Teil innerlich von den berechtigten
Traditionen des Geburtsadels abgefallenen, aber
auf den Genuß ihrer Privilegien nicht verzichten-
den französischen Aristokratie der zweiten Hälfte
des 18. Jahrh. angehört, welche der Invasion
der verderblichen neuen Ideen und der darauf
folgenden politischen Revolution keinen rationellen
Widerstand entgegenzusetzen wußte, so hochbegabte
und humane Männer sie auch zu den Ihrigen
zählte.
St-Simon hat sein soziales System in der
Réorganisation de la société européenne