Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

113 
und der Landstände ausgeübt wurde. Es gehörte, 
solange der Deutsche Bund bestand, die Erledi- 
gung der an die Bundesversammlung gerichteten 
Petitionen zu deren häufigsten und wichtigsten 
Geschäften. Das österreichische Staatsgrund- 
gesetz vom 21. Dez. 1867 über die allgemeinen 
Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrat ver- 
tretenen Länder und Königreiche garantiert in 
Art. 11 jedermann das Petitionsrecht. Petitionen 
unter einem Gesamtnamen dürfen jedoch nur von 
gesetzlich anerkannten Körperschaften oder Vereinen 
ausgehen. Nach den einzelnen Landesordnungen 
können die Petitionen an die zuständigen ein- 
zelnen Landtage oder an den Reichsrat gerichtet 
werden. Deputationen dürfen in die Versamm- 
lungen der Landtage nicht zugelassen, Bittschriften 
dürfen von den Landtagen nur angenommen wer- 
den, wenn sie ihnen durch ein Mitglied überreicht 
werden. Die Landtage können Anträge stellen 
über Gesetze und allgemeine Einrichtungen be- 
züglich ihrer besondern Rückwirkung auf das 
Wohl des Landes sowie auf Erlassung allgemeiner 
Gesetze und Einrichtungen, welche die Bedürfnisse 
und die Wohlfahrt des Landes erheischen. Die 
Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 
1871 ermächtigt in Art. 23 den Reichstag, inner- 
halb der Kompetenz des Reichs Gesetze vorzu- 
schlagen und an ihn gerichtete Petitionen dem 
Bundesrat resp. Reichskanzler zu überweisen. In 
den Ländern deutscher Zunge steht somit das Pe- 
titionsrecht allen Untertanen und Volksvertre- 
tungen zu. 
Daß das Petitionsrecht der Staatsbürger, 
welches in Deutschland als einem Bundesstaat 
sich auch an den Kaiser, den Reichskanzler und 
den Bundesrat richtet, ein Rechtsinstitut sei, wird 
bestritten, weil „bitten“ keine Rechtshandlung sei. 
Da dem Begriff des Rechts als derjenigen 
Willensnorm, durch welche das Zusammenleben 
der Menschen geregelt wird, die Verwirklichung 
der dem einzelnen zustehenden, zum Recht er- 
hobenen Willensmacht wesentlich ist, so kann aller- 
dings in der den einzelnen und Korporationen 
gewährten Befugnis, den Ministerien, dem Staats- 
oberhaupt oder den Volksvertretungen ihre Wünsche 
und Beschwerden vortragen zu dürfen, ein Recht 
im subjektiven Sinn nicht gefunden werden, weil 
die Verpflichtung der Berücksichtigung dieser Bitten 
fehlt. Denn die Gewährleistung des Petitions- 
rechts in den Verfassungsurkunden verpflichtet nicht 
zur Bescheidung auf die Petition; sie hat nur den 
Zweck, jedem Mitglied des Volks die durch die 
Verfassung jedem einzelnen gewährte Teilnahme 
an der Bewegung im staatlichen und bürgerlichen 
Leben zu sichern. Aber durch diesen jede Verfol- 
gung und Bestrafung wegen Ausübung des Pe- 
titionsrechts ausschließenden verfassungsmäßigen 
Schut sowie durch den Schutz, welchen die Volks- 
vertretung den einzelnen Untertanen durch die Be- 
rücksichtigung ihrer Beschwerden gewähren kann, 
wird das Petitionsrecht der Staatsbürger zu einem 
Petitionsrecht. 
  
114 
die bürgerliche Freiheit garantierenden Institut 
des öffentlichen Rechts. 
Von dem Petitionsrecht verschieden ist das in 
einzelnen Verfassungen garantierte Recht jedes 
Landesangehörigen, über das seine Interessen be- 
nachteiligende verfassungs-, gesetz= oder verord- 
nungswidrige Benehmen oder Verfahren einer 
öffentlichen Behörde bei der unmittelbar vor- 
gesetzten Behörde Beschwerde zu erheben und 
solche nötigenfalls bis zur höchsten Instanz zu 
verfolgen. Soweit diese Beschwerden sich gegen 
Verfügungen wenden, welche von einer Behörde im 
bürgerlichen oder Verwaltungsstreitverfahren, im 
Straf-oder Disziplinarverfahren ergangen sind und 
die prozessuale Stellung des Beschwerdeführers be- 
treffen, sind dieselben ein Rechtsmittel und unter- 
liegen dem in den Gesetzen über das Verfahren 
vor den Gerichten, den Verwaltungsstreitbehörden 
sowie den Disziplinarbehörden angeordneten In- 
stanzenzug, werden auch durch die Entscheidung 
der gesetzlich letzten Instanz endgültig erledigt. 
Denn gegen die rechtskräftigen Entscheidungen der 
Gerichte, der Verwaltungsstreit= und Disziplinar- 
behörden gibt es infolge des Prinzips der Un- 
anfechtbarkeit dieser Entscheidungen kein Petitions- 
recht. Über die prozeßleitenden Verfügungen der 
Gerichte, über die von den Richtern kraft der ihnen 
zustehenden Disziplinargewalt getroffenen Anord- 
nungen sowie über die Zulässigkeit des Rechts- 
wegs entscheiden nach dem deutschen Gerichts- 
verfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 die Gerichte. 
Beschwerden über verweigerte oder verzögerte Justiz 
sowie über zu Ungebühr verfügte Ordnungsstrafen 
können somit durch die Gerichte selbst entschieden 
werden (vol. Art. Justizverweigerung; Kabinetts- 
justiz). Sollte versucht werden, durch landes- 
herrliche Verfügung den Lauf der Justiz zu hem- 
men, und sollte auf gesetzlichen Wegen ausreichende 
Hilfe nicht erlangt werden können, so ist gegen 
solche Verfügungen die Beschwerde an den Bun- 
desrat zugelassen, welcher durch Art. 77 der Ver- 
fassung des Deutschen Reichs verpflichtet ist, er- 
wiesene, nach den bestehenden Gesetzen des betref- 
fenden Bundesstaats zu beurteilende Beschwerden 
über verweigerte oder gehemmte Rechtspflege an- 
zunehmen und darauf die gerichtliche Hilfe bei der 
Bundesregierung, die zu der Beschwerde Anlaß 
gegeben hat, zu bewirken. Dieser Schutz gilt auch 
für diejenigen Prozeß= und Strafsachen, für 
welche reichsgesetzlich besondere Gerichte bestellt 
oder zugelassen sind. Die Reichsverfassung ge- 
währt die Beschwerde wegen Verweigerung oder 
Verzögerung der Justiz uneingeschränkt; nach der 
historischen Entwicklung dieses Beschwerderechts 
kann aber bei demselben weder an die gerichtliche 
Zurückweisung eines Antrags, gegen welche es 
Rechtsmittel gibt, noch an die auf der Gesetz- 
gebung beruhende Ausschließung des Rechtswegs 
gedacht sein, soweit diese Gesetzgebung nicht mit 
der dem Landesgesetz vorgehenden Reichsgesetz- 
gebung in Widerspruch steht. Gegen den ab-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.